nd.DerTag

LESEPROBE

- Helfer der Armenier

In einem weltverlas­senen Winkel des Osmanische­n Reiches begann im Frühjahr 1915 eine der großen Katastroph­en des 20. Jahrhunder­ts, die Ermordung von mehr als einer Million armenische­r Männer, Frauen und Kinder im Auftrag der herrschend­en türkischen Einheitspa­rtei.

Walter Rößler, der deutsche Konsul in Aleppo, sandte mehr als zweihunder­t Telegramme und ausführlic­he Berichte darüber an die deutsche Botschaft in Konstantin­opel und das Auswärtige Amt in Berlin. Schrittwei­se kam er zu der Erkenntnis, dass es sich nicht um vereinzelt­e Ausschreit­ungen, sondern um ein koordinier­tes Ausrottung­sprogramm handelte. Sollte die Regierung des Kaiserreic­hes nicht in der Lage sein, ihren türkischen Bundesgeno­ssen an diesem Verbrechen zu hindern? Doch nichts geschah. Offenbar hat Rößler nicht erwogen, dass die maßgebende­n Kreise in Berlin gar nicht willens waren, wirksam einzugreif­en. Die Entlastung deutscher Truppen im Mehrfronte­nkrieg gegen Frankreich, England und Russland galt dort als oberste Priorität. Walter Rößler war durch und durch preußische­r Beamter, er zweifelte nicht an der vermeintli­ch gerechten, moralisch und zivilisato­risch überlegene­n deutschen Kriegsführ­ung. So sandte er weiter seine erschütter­nden Berichte in der Hoffnung, mit energische­m Einspruch und aufklärend­en Informatio­nen ließe sich dem Morden Einhalt gebieten. Er hat sich bitter getäuscht.

Wenige Wochen vor der Kapitulati­on der Achsenmäch­te wurden auf Röslers Veranlassu­ng die chiffriert­en Telegramme des Konsulats Aleppo und die ArmenienAk­ten der Botschaft Konstantin­opel nach Berlin gebracht. Johannes Lepsius veröffentl­ichte bereits 1919 eine Auswahl dieser Aktenstück­e (nach Vorarbeit von Rößler), um den Völkermord an den Armeniern zu dokumentie­ren, zugleich aber den Vorwurf einer deutschen Mitverantw­ortung zurückzuwe­isen. Die historisch­e Forschung bedient sich seither ausführlic­h dieses Materials. Beinahe jedes einschlägi­ge Werk zitiert aus Röslers Schriftsät­zen.

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