Die Herzen der Gestrandeten
Angela Merkel werde deutsche Kriegsschiffe schicken, um sie von griechischen Eilanden direkt nach Deutschland zu bringen, und ein »Kommando Norbert Blüm« werde ihnen den Weg nach Mazedonien weisen: Haarsträubende Versprechungen, aber viele der in Griechenland festsitzenden Flüchtlinge scheinen das zu glauben. Wegen eines Flugblattes auf Arabisch, das dem 80jährigen Herz-Jesu-Marxisten Norbert Blüm untergeschoben wurde, ertranken bei Idomeni drei Menschen.
Ich bin in Athen und will eine Ahnung davon bekommen, was die Migranten von uns glauben. Ich gehe nicht gern zu ihnen. Es macht ein scheußliches Gefühl, Unglücklichen in die Augen zu sehen und sich dabei zu denken, dass Deutschland und Österreich schon genug aufgenommen haben.
Ich fahre den sonnigen Saronischen Golf hinunter, da sehe ich an einem heruntergekommenen Stadion bei lauter Musik Menschentrauben hängen. Ich steige aus der Küstentramway aus. Die Zäune und Büsche auf dem Stadionvorplatz sind bis auf den letzten Zweig mit Wäsche vollgehängt. Ich höre, dass hier ausschließlich Afghanen leben. Mich erstaunt die ethnische Vielfalt Afghanistans, einige sehen wie Südeuropäer aus, andere wie Zentralasiaten. Am Tor »Arrivals Domestic« Lautsprecherboxen, und tausend Afghanen feiern zwischen Containern und Dixi-Klos ihr Neujahrsfest.
Ich kann mich kaum mit ihnen verständigen. Einer sagt: »Three months ago Merkel come here.« Ob das gut für ihn ist, kann er schon nicht mehr sagen. Mein Herkunftsland Österreich nennen sie bei seinem französischen Namen. »Ich repariere Handys«, sagt einer, »wird das in Autriche gebraucht?« – »Ich denke schon, aber die Grenze ist zu.« Auch an Silvester ist ihre Geschlechtertrennung strikt. Frauen stehen in einer kerzengeraden Einer-Reihe für das Abendessen an, die Schlange der Männer ist schlampig. Von verstellbaren Plexiglaswänden geschützt, steht ein Gabentisch in der Mitte. Darauf ein paar Blümchen, Schokis, Kerzen und Knoblauch. Eine ältere Griechin – T-Shirt »I speak fluently sarcasm« – sucht paffend den Überblick. Plötzlich stürmt sie auf den Gabentisch los, ein paar Jungs haben zu naschen begonnen. »Nach dem
Martin Leidenfrost, Abendessen!«, kreischt sie genervt. Die Teenager lachen sie aus. »Warum tanzen nur Männer?«, frage ich einen. »Das ist unsere Kultur. Männer und Frauen machen alles getrennt.«
Gegen Mitternacht stehe ich im Passagierhafen Piräus. Ich komme wenige Tage vor der Schlägerei zwischen Afghanen und Syrern, die acht Verletzte fordern wird. Die Piers E1 und E2 geben mir ein Bild des Elends in Cinemascope ab: Vor hohen dunklen Hallen eine Unzahl kleiner, niedriger, eng gesetzter Zelte. Verschleierte Frauen liegen unter Feld- decken zusammen, viele Männer stehen rum. Ein paar wenige lassen abseits die Füße über dem Wasser baumeln. Ein vornehmer Syrer, 22, kuckt seinen Kumpels beim Fußballspielen zu. »Alle hier sind Muslime«, betont er. Er sei vor fünf Wochen alleine aus Aleppo geflohen, wegen der russischen Bomben und um nicht in die Armee von »Killer« Assad eingezogen zu werden. Seine Prioritäten sind klar: 1. Deutschland, 2. Luxemburg, 3. Holland, 4. Finnland. Österreich kennt er nicht. Beim Aussprechen eines weiteren Landes springt der besonnene Bursche zurück, als wiche er vor dem Leibhaftigen selbst: »HUNGARIA – NO!« – »Warum nicht?« – »Die Ungarn stehlen den Flüchtlingen den Pankreas oder die Leber. Sie schneiden sogar Herzen heraus und verkaufen sie!« – »Davon habe ich nie gehört«, beruhige ich ihn. Und denke: Da hat Viktor Orbán ganze Arbeit geleistet.
Bald stehen wieder viele Afghanen um mich rum, weil Autriche. Ein »gutes Land«, das Flüchtlinge »liebt«, »mag«, wenigstens »akzeptiert«. Einer witzelt mit einer Geste über Angela Merkels Weiblichkeit. Ein anderer erklärt, er wolle nicht nach Deutschland, weil eine »Green Card« dort bis zu sechs Monate brauche, in Österreich gehe das schneller. Woher sie ihre Informationen haben, können sie mir nie sagen. Nicht allen scheint klar zu sein, dass sie festsitzen. Ich werde gefragt: »Stimmt es, dass sie uns in die Türkei schicken?« Ich bin überfragt. Ich weiß nur, dass ich am nächsten Tag nach Bratislava zurückfliege, ins Dreiländereck Slowakei-Ungarn-Österreich, zu den Herzherausschneidern und zu meinen herzensguten Landsleuten. Autriche, höre ich sie murmeln, »nimmst du mich mit?« Ich mache ihnen keine Hoffnung. »Nein, die Grenze ist zu.«