»Er ändert nichts und macht doch alles anders«
Das neue Papst-Schreiben über Liebe und Familie lässt viele Deutungsmöglichkeiten zu
Das Schreiben des Papstes zu Ehe und Familie öffnet neue Türen. Eine Revolution ist es nicht, aber Franziskus überrascht mit Selbstkritik und offenen Worten über Sex. Rom. Bei den heiklen Streitthemen Ehe und Familie macht der Vatikan einen kleinen Schritt nach vorne – ohne jedoch an den Grundfesten der bisherigen Kirchenregeln zu rütteln. Papst Franziskus ändert in seinem mit Spannung erwarteten Schreiben »Amoris Laetitia – über die Liebe in der Familie« zwar die bestehenden Gesetze für wiederverheiratete Geschiedene nicht, lässt aber mehr Spielraum für Einzelfallentscheidungen. Wegen der zahllosen Unterschiede konkreter Situationen sei es klar, »dass man von der Synode oder von diesem Schreiben keine neue, auf alle Fälle anzuwendende generelle gesetzliche Regelung kanonischer Art erwarten durfte«, heißt es in dem am Freitag veröffentlichten Dokument.
Mit Blick auf die Teilnahme an der Kommunion appelliert der Papst in dem 188 Seiten starken Dokument an das Gewissen Wiederverheirateter und setzt auf die pastorale Kompetenz der Priester. Franziskus fordert eine »verantwortungsvolle persönliche und pastorale Unterscheidung der je spezifischen Fälle«, Barmherzigkeit und Integration. »Niemand darf auf ewig verurteilt werden, denn das ist nicht die Logik des Evangeliums«, erklärt das Kirchenoberhaupt.
Mit dem Lehrschreiben fasst der Argentinier die Ergebnisse der beiden Bischofstreffen aus den vergangenen Jahren zum Thema Ehe und Familie mit seinen eigenen Schlussfolgerungen zusammen. Im vergangenen Jahr hatten die Bischöfe in ihrem Abschlusspapier für vorsichtige Öffnung plädiert und Einzelfallprüfungen angeregt. Diese Idee greift Franziskus auf, ohne verbindliche Vorgaben zu machen. »Er ändert nichts und macht doch alles anders«, erklärt der Theologie-Professor Wolfgang Beinert und spricht von einem »wirklichen Reformschreiben«. Die Stoßrichtung bestehe darin, »dass der Papst von innen heraus das Ganze aushöhlt und damit eigentlich zum Einsturz bringt bei Wahrung der Fassade des Kirchenrechts«.
Auf das zweite Streitthema, den Umgang mit Homosexuellen, geht der 79-Jährige hingegen – ebenso wie die Synodenväter – so gut wie gar nicht ein. In einem kurzen Absatz erklärt er, jeder Mensch müsse »unabhängig von seiner sexuellen Orientierung, in seiner Würde geachtet und mit Respekt aufgenommen werden«. Eine Gleichstellung mit der Ehe zwischen Mann und Frau lehnt er ab.
Im Zentrum des Textes steht die Liebe mit all ihren Facetten. Dabei spricht der Papst auch Themen wie Leidenschaft und Erotik an, die bisher in der katholischen Kirche meist ein Tabu waren. »Wir dürfen also die erotische Dimension der Liebe keineswegs als ein geduldetes Übel oder als eine Last verstehen (...), sondern müssen sie als Geschenk Gottes betrachten«, schreibt er. Franziskus erklärt zudem, nicht alle »doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen« müssten durch ein »lehramtliches Eingreifen« entschieden werden.