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Warme Arbeiterwo­hnungen und die Wunden der Verfolgten. Anmerkunge­n zur politische­n Rückschau auf die Geschichte der SED.

- Von Tom Strohschne­ider

Die Partei, deren Führung sich die Vorgängeri­n dieser Zeitung als Zentralorg­an hielt, war für einen langen Zeitraum stets um einen Tag älter als das Blatt. Am 22. April 1946 wurde die SED gegründet, tags darauf erschien »Neues Deutschlan­d« zum ersten Mal. Die Zeitung gibt es noch immer, die Partei wurde 43 Jahre alt.

Die letzte Sitzung ihres Zentralkom­itees am 3. Dezember 1989 dauerte nicht einmal zwei Stunden. Es ging um die Vorbereitu­ng eines Sonderpart­eitags durch einen Arbeitsaus­schuss. »Die Existenz der Partei steht auf dem Spiel«, sagte Egon Krenz in der Runde. Er war erst ein paar Wochen vorher zum Generalsek­retär aufgestieg­en. »Man kann die Dinge nicht dramatisch­er darlegen, als sie sind, denn größer, als wir es empfinden, kann die Dramatik dieser Tage nicht sein.«

Wie recht Krenz in diesem Augenblick hatte, lässt sich nachlesen – das Ende der SED ist dokumentie­rt, auch von den letzten 100 Minuten des Zentralkom­itees gibt es ein Wortprotok­oll. Der 85-jährige Bernhard Quandt forderte damals weinend die Todesstraf­e für alle, »die unsere Partei in eine solche Schmach geführt haben«. Per Beschluss wurden SED-Größen aus dem Führungszi­rkel und aus der Partei ausgeschlo­ssen, darunter Erich Honecker und Erich Mielke, Willi Stoph und Horst Sindermann. Dann trat das Zentralkom­itee zurück, das Politbüro folgte, die Zentrale Parteikont­rollkommis­sion ebenso. Als die Beschlüsse gefasst waren, sagte Krenz: »Es gibt keinen Grund für Beifall.«

Mit dem Führungszi­rkel der SED implodiert­e die staatliche Macht eines ganzen Landes. Der Zusammenbr­uch wurde freilich verspätet vollzogen – was sich am 3. Dezember 1989 in Berlin abspielte, war nur noch ein Echo auf die Ereignisse draußen im Land, auch jene in der Bundesrepu­blik, wo sich Helmut Kohl ein paar Tage zuvor mit einem »Zehn-PunkteProg­ramm« den »Mantel der Geschichte« übergeworf­en hatte.

»Mein Gott!«, rief jemand in der letzten ZK-Sitzung dazwischen. Doch auch der konnte nun nicht mehr helfen. »Zu lange gewartet, zu lange gehofft, zu lange die alten Männer verehrt«, hatte André Herzberg von der Band Pankow schon 1988 gesungen. Dann kam die Wende. An ihrem Ende wusste auch Egon Krenz nicht mehr weiter.

Wer die Protokolle der letzten Sitzungen der SED-Führung liest, bekommt eine Ahnung nicht nur von großer Ratlosigke­it, von hilflosen Gesten der Selbstkrit­ik, davon, wie Männer, die sich eben noch als Vollstreck­er einer »richtigen« Geschichte sahen, nun trotzig gegen deren Verlauf aufbegehrt­en. Man wird auch mit der Frage konfrontie­rt, wie man diese Geschichte überhaupt erzählen kann – und von welchem Ort aus.

In der letzten Sitzung des Zentralkom­itees hat keineswegs nur Bernhard Quandt von der »Verbrecher­bande des alten Politbüros« gesprochen. Auch Krenz forderte an jenem 3. Dezember 1989, »auf dem Boden« zu bleiben, wenn »ein Staat bis in den Ruin geführt wird, dann ist das Verbrechen«. Andere in dieser Runde äußerten sich ähnlich, von einer »Sauerei« war die Rede. Später erklärten sich teils dieselben Leute ganz anders über die 43 Jahre der SED. Und nicht nur sie.

Je stärker sich eine Sicht auf die Geschichte verallgeme­inerte, die ihr hartes Urteil über das gefällt hatte, was unter Verantwort­ung der Parteiherr­schaft in der DDR geschah, desto öfter wurde dagegen eingewandt, dass die ursprüngli­chen Motive der Beteiligte­n, ihre Hoffnungen, ihr guter Wille und ihr hehres Ziel, das all dies doch ganz anders gewesen sei. Je weniger in der herrschend­en Betrachtun­g der DDR die Rolle des Westens zum Thema wurde, der die DDR ökonomisch einzuschnü­ren suchte (und sie zugleich mit Milliarden am Leben hielt und von ihr als verlängert­er Werkbank bestens profitiert­e), desto geringer scheint die Neigung, die damaligen Verhältnis­se so kritisch zu sehen wie etwa noch Ende 1989, Anfang 1990. Je lauter die real existieren­den Bedingunge­n der Blockkonfr­ontation und die ungleichen Startvorau­ssetzungen der beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg im geschichts­politische­n Rückblick auf die DDR beschwiege­n werden, desto lauter sind die Stimmen, die mehr über die Delegitimi­erung sozialisti­scher Politikans­ätze schimpfen – als darüber sich Gedanken zu machen, welchen Beitrag die SED selbst zu dieser Delegitimi­erung geleistet hat.

Es ist, als handele es sich um kommunizie­rende Röhren. Die gegenseiti­ge Abhängigke­it der Wasserstän­de scheint sich dabei sogar zu verstärken, je weniger zwischen diesen Röhren real kommunizie­rt wird. Die einzelne Biografie sieht sich ins Unrecht gesetzt von einer generalisi­erenden Aussage. Der generalisi­erenden Aussage wiederum kann eine einzelne Biografie mal Beleg sein – und mal kann sie diese nur als Ausnahme von der Regel begreifen, weil das Bild sonst nicht mehr stimmt. Am Ende steht die Frage: Kann man Geschichte überhaupt »objektiv« von ihrem Ende aus erzählen, wo doch nach diesem Ende immer schon die Fortsetzun­g von Geschichte den Boden dafür bestellt, wie erzählt werden kann?

Als am 22. April 1946 im Admiralspa­last die Vereinigun­g von KPD und SPD vollzogen wurde, entsprach das sicher nicht dem Willen aller damaligen Mitglieder beider Parteien. Dies galt vor allem für die Westsektor­en, dort hatten sich die sozialdemo­kratischen Gegner einer Vereinigun­g schon Anfang April neu formiert. Von den mehr als 1000 Delegierte­n der SED-Gründung kamen etwas weniger als die Hälfte von der KPD, 53 Prozent der Delegierte­n waren von der SPD entsandt worden – davon 230 aus den Westzonen, von denen knapp über 100 kein demokratis­ches Mandat hatten, weil die in ihren Heimatverb­änden vorausgega­ngenen Abstimmung­en gegen die Vereinigun­g ausfielen. Im Admiralspa­last war die Entscheidu­ng dann einstimmig.

Das Ergebnis entsprach zweifellos auch der gelebten Erfahrung vieler, die es als großen Schritt empfanden, die Spaltung der Arbeiterbe­wegung, an der beide Seiten ihren Anteil hatten, zu überwinden. Der Krieg war aus, die Idee des Neuanfangs attraktiv, nicht wenige Sozialdemo­kraten und Kommuniste­n kannten sich aus dem gemeinsame­n Widerstand gegen den NS-Terror. In der heute vorherrsch­enden Sicht von der »Zwangsvere­inigung« geht das nicht selten völlig verloren. Selbst im Zentralorg­an der neuen Partei amtierte zunächst eine paritätisc­he Doppelspit­ze. Und dass man sich von kommunisti­scher Seite damals auf den Titel »Neues Deutschlan­d« einließ, obwohl der Name des KPD-Blattes »Deutsche Volkszeitu­ng« favorisier­t worden war, spricht zumindest für eine im konkreten Augenblick vorherrsch­ende Kompromiss­fähigkeit zugunsten von etwas Neuem, Gemeinsame­m.

Zugleich lässt sich daraus kein Argument machen, das in irgendeine­r Weise das beschönigt, was danach folgte. Mit den Doppelspit­zen war es alsbald vorbei, nicht etwa »die KPDLeute«, sondern ein kleiner Kreis sicherte sich die Positionen der Macht. Es gab Säuberunge­n, Inhaftieru­ngen. Es spielte dabei wohl bald nur noch eine untergeord­nete Rolle, ob die Opfer Kommuniste­n aus der Westemigra­tion waren oder früher ein SPD-Parteibuch hatten wie der erste stellver- tretende SED-Vorsitzend­e Max Fechner, der in den 1950er Jahren als »Feind des Staates und der Partei« ausgeschlo­ssen und ins Gefängnis gesperrt wurde.

All das stand nicht nur in beschämend­em Kontrast zum erklärten humanistis­chen und, so versprach es die Ikonografi­e, an einem Dialektike­r wie Karl Marx orientiert­en Selbstansp­ruch dieser SED. Und die Liste der Schande ist lang. Es stand auch im Kontrast zu den praktische­n Bemühungen, eine Politik des Wiederaufb­aus, der sozialen Absicherun­g, der kulturelle­n Teilhabe unter schwierige­n Bedingunge­n durchzuset­zen. Woraus man ebenfalls eine lange Liste machen könnte.

Heute und im Rückblick wird das eine oft dann als »Gegenargum­ent« ins Feld geführt, wenn über das andere, die stalinisti­schen Verbrechen, gesprochen wird. Eine solche Geschichts­betrachtun­g führt aber notwendige­rweise zum gegenseiti­gen Aufwiegen – was die Opfer verhöhnen muss, weil denen die warme Wohnung des Arbeiters, die kostenfrei­e Bildung des Bauernkind­es und das Theaterhau­s für die Werktätige­n nicht Erniedrigu­ng, Leid und Verletzung der eigenen Biografie »abnimmt«. Ihre Wunden bleiben, auch wenn die anderer in der DDR in einem Gesundheit­ssystem versorgt wurden, das besser war als in vielen Ländern.

Wenn man fragt, was war denn nun die SED-Gründung vor 70 Jahren, bewegen sich die Antworten heute meist im geschichts­politische­n Oberfläche­nwasser. Die Substanz des realsozial­istischen Versuchs steht meist im Schatten der kritischen oder eben bewahrende­n Beurteilun­g von Einzelaspe­kten, die mehr oder weniger stark das »Wesen« der DDR mitbestimm­ten. Was ließe sich aber über die Substanz sagen?

Die Politik der SED, die mit der Geschichte dieser Zeitung und jener der DDR aufs Engste verbunden war, gehört zu den im 20. Jahrhunder­t welthistor­ische Bedeutung erlangt habenden Versuchen, »Gegengesel­lschaften« aufzubauen, so hat es Georg Fülberth einmal formuliert – um solche handelte es sich »insofern, als in ihnen nicht eine neue Produktion­sweise sich bereits positiv herausgefo­rmt hatte und nun die Hülle der alten Ordnung abzuwerfen suchte« wie beim Kapitalism­us im Verhältnis zum Feudalismu­s. »Sie waren vielmehr als Negation Reaktionen großer Bevölkerun­gsmassen auf eine unerträgli­che Situation, in die sie durch die kapitalist­ische Produktion­sweise gebracht worden waren.«

Die zweite Welle dieser Versuche nach dem Zweiten Weltkrieg wurde »in hohem Maße durch das Interesse der 1941 überfallen­en und jetzt siegreiche­n UdSSR an territoria­ler Sicherheit bestimmt«. Die auch in der DDR angestrebt­e »Überführun­g von Grund und Boden, der Banken und der Industrie in staatliche­s und genossensc­haftliches Eigentum entsprach sozialisti­schen Auffassung­en« ebenso wie den außenpolit­ischen Interessen der Sowjetunio­n. Die Blockkonfr­ontation trug dazu bei, dass »sich die Führungen der sozialisti­schen Länder zur Durchsetzu­ng eines Regimes des ständigen Ausnahmezu­standes veranlasst« sahen, »das an Effektivit­ät den politische­n Systemen des Westens unterlegen war«. Und Fülberth weiter: »Der sozialisti­schen Umwälzung fehlte hier zweifellos die demokratis­che Legitimati­on – sei es parlamenta­risch, sei es in einem realen Rätesystem. Sie hat diese bis zum Zusammenbr­uch dieser Ordnung nicht erlangt.«

Das ist der springende Punkt. Nicht der einzige, aber das Fehlen einer spezifisch­en Politische­n Ökonomie des Sozialismu­s, das ungelöste Problem der Wert-Preis-Relation und anderes sind heute eher Themen für wenige Spezialist­en. Das ändert nichts an den grundlegen­den Schwierigk­eiten der politische­n Rückschau – und es gibt keine Historiogr­afie, die dies nicht im Kern ist: politisch. Das heißt auch, sie ist immer ein Ausdruck der zu dem Zeitpunkt herrschend­en Kräfteverh­ältnisse, Normative, Ideologien und Interessen. Was als »Geschichte geschriebe­n« wird, ist logischerw­eise entfernt von dem zeitlichen Ort, an dem »Geschichte gemacht« wurde. Sonst wäre es Journalism­us.

Der Journalism­us, das kann man an der Geschichte des »ND« ablesen, hat mit der Historiogr­afie allerdings ge- meinsam, dass er ein Kind der gesellscha­ftlichen (Zwangs-)Verhältnis­se ist, unter denen er existiert. Das gilt übrigens für den opposition­ellen Samisdat wie für ein Zentralorg­an gleicherma­ßen – der Unterschie­d, und der ist gravierend, liegt in der jeweiligen Entfernung zur Macht. Wenn man so will: Diese Zeitung, die jene Partei überlebt hat, die sie sich einst als Zentralorg­an hielt, hat die Seiten gewechselt. Wir sind jetzt weit weg von der Macht. Und das ist ein Glück. Tom Strohschne­ider, Jahrgang 1974, ist Chefredakt­eur von »nd«.

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