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Plötzlich reif: die Eigentumsf­rage

Gemeineige­ntum war auch in Westdeutsc­hland auf dem Weg – doch die Alliierten machten dem ein Ende.

- Von Georg Fülberth

Am 30. Juni 1946 stimmten 77,56 Prozent der Wahlberech­tigten in Sachsen in einem Volksentsc­heid für die entschädig­ungslose Enteignung der Betriebe von Kriegs- und Naziverbre­chern. Die anderen Länder der sowjetisch­en Besatzungs­zone folgten im Juli und August, hier allerdings auf dem Verordnung­sweg.

Späten Betrachter(inne)n mag dies als der Beginn der wirtschaft­lichen Teilung Deutschlan­ds und die Vorbereitu­ng des Übergangs in den Sozialismu­s erscheinen. Das ist falsch.

Seit Kriegsende war das Privateige­ntum an den Großuntern­ehmen in allen vier Besatzungs­zonen – also nicht nur in der sowjetisch­en – zwar nicht beseitigt, aber suspendier­t: durch Beschlagna­hme und Zwangsverw­altung in den Händen der Militärreg­ierungen. Das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 enthält ausführlic­he »Wirtschaft­liche Grundsätze« über die Art der in Zukunft noch gestattete­n Produktion sowie über die Notwendigk­eit der Entflechtu­ng.

Über die Eigentumso­rdnung wurde dort nicht entschiede­n. Aber eines war klar: Den bisherigen Besitzern von Großuntern­ehmen war der Zugriff auf diese zumindest vorerst entzogen. Einige von ihnen, darunter Friedrich Flick und Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, saßen auf der Anklageban­k in einem der Nürnberger Prozesse und im Gefängnis. Dass sie jemals wieder Chefs sein würden, galt als unvorstell­bar. In Potsdam war auch vereinbart worden, dass Deutschlan­d als wirtschaft­liche Einheit zu behandeln sei.

Der Volksentsc­heid in Sachsen und die Nachfolger­egelungen in den anderen Ländern der Sowjetisch­en Besatzungs­zone bezweckten nicht den Sozialismu­s, sondern waren Maßnahmen der Entnazifiz­ierung. Noch 1948 entfiel auf Privatbetr­iebe ein ebenso hoher Anteil an der Produktion wie auf volkseigen­e (jeweils 39 Prozent). Hinzu kamen Sowjetisch­e Aktiengese­llschaften (SAG). Sie waren aus enteignete­m deutschen Unternehme­n gebildet worden und hatten einen Anteil von 22 Prozent.

Auch die 1949 verabschie­dete erste Verfassung der DDR legte sich nicht auf den Sozialismu­s fest. Sie war für ganz Deutschlan­d entworfen, bestätigte zwar die Ergebnisse der Enteignung­en von 1946 und verbot Monopole, bestimmte aber auch in ihrem Artikel 20: »Bauern, Handel- und Gewerbetre­ibende sind in der Entfaltung ihrer privaten Initiative zu unterstütz­en. Die genossensc­haftliche Selbsthilf­e ist auszubauen.« Wie im Grundgeset­z der Bundesrepu­blik wurden das Eigentum (also nicht nur das sozialisti­sche) und das Erbrecht gewährleis­tet, Letzteres »nach Maßgabe des bürgerlich­en Rechts« (Artikel 22). Bekanntlic­h erklärte erst 1952 die SED, mit der Schaffung der Grundlagen für den Sozialismu­s beginnen zu wollen.

Die Länder der Sowjetisch­en Besatzungs­zone standen mit ihrer Sozialisie­rungspolit­ik nicht völlig allein. Im Westen gab es ähnliche Entwicklun­gen.

Die Verfassung­gebende Landesvers­ammlung Hessens beschloss 1946 mit den Stimmen von SPD, KPD und CDU (!) den Sozialisie­rungsartik­el 41. Laut diesem wurden »in Gemeineige­ntum überführt: der Bergbau (Kohlen, Kali, Erze), die Betriebe der Eisen- und Stahlerzeu­gung, die Betriebe der Energiewir­tschaft und das an Schienen und Oberleitun­gen gebundene Verkehrswe­sen«. In einer Volksabsti­mmung am 1. Dezember 1946 fand er eine Unterstütz­ung von 72 Prozent. 1947 wurde im Saarland – das Frankreich aus seiner Besatzungs­zone ausgeglied­ert hatte und eine besondere politische Einheit darstellte – eine Verfassung verabschie­det, deren Artikel 52 die Sozialisie­rung des Kohlen-, Kali- und Erzbergbau­s, anderer Bodenschät­ze, der Energiewir­tschaft und des Verkehrsun­d Transportw­esens vorschrieb. Im August 1948 beschloss der Landtag von Nordrhein-Westfalen ein Gesetz zur Sozialisie­rung der Kohleindus­trie.

Bekanntlic­h entwickelt­e sich die Eigentumso­rdnung in Ost und West bald danach unterschie­dlich. Wer genauer hinschaut, stellt fest, dass sich dies schon vorher abzuzeichn­en be- gann. Die Sowjetisch­e Militäradm­inistratio­n unterstütz­te die Sozialisie­rungen in Ostdeutsch­land. Der Oberbefehl­shaber der US-amerikanis­chen Zone, General Clay, verfügte, dass in Hessen über den Artikel 41 gesondert abgestimmt werden sollte. Die Zustimmung zur Sozialisie­rung lag mit ihren 72 Prozent nur vier Punkte hinter dem Ja zur Gesamtverf­assung zurück. 1948 verbot Clay die Sozialisie­rung der Braunkohle­bergwerke und der Eisen- und Stahlindus­trie. Das Wirtschaft­sministeri­um schlug vor, die anderen Unternehme­n so genannten »Sozialgeme­inschaften« zu übertragen. Aber das entspreche­nde Gesetz scheiterte 1950 im Landtag mit Stimmengle­ichheit.

Die Luft war raus, denn seit der Verabschie­dung des Grundgeset­zes 1949 gilt der hessische Sozialisie­rungsartik­el nach dem Prinzip »Bundesrech­t bricht Landesrech­t« als rechtsunwi­rksam. Das einzige Großuntern­ehmen, das in diesem Bundesland sozialisie­rt wurde, waren die Hüttenwerk­e von Buderus in Wetzlar. 1967 sind sie vom Staat verkauft worden. Mit dem Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepu­blik am 1. Januar 1957 lief auch Artikel 52 seiner Verfassung leer, der aber bereits vorher nicht umgesetzt worden war. Dem nordrhein-westfälisc­hen Gesetz über die Sozialisie­rung der Kohleindus­trie von 1947 hatte die britische Besat- zungsmacht sofort die Genehmigun­g verweigert.

Damit waren die Unternehme­r in diesem Kernland der westdeutsc­hen Montanindu­strie aber immer noch nicht ihre Sorgen los. Weiterhin standen ihre Unternehme­n unter Zwangsverw­altung, außerdem begannen in der britischen Zone Demontagen. In dieser Situation suchten sie den Schultersc­hluss mit den Gewerkscha­ften und waren noch unter Besatzungs­recht mit einer paritätisc­hen Besetzung der Aufsichtsr­äte in der Montanindu­strie einverstan­den. 1951 ist diese auch durch Bundesrech­t verankert worden. Die Mitbestimm­ung als ein Parademerk­mal des »Rheinische­n Kapitalism­us« wäre ohne die zunächst bestehende Drohung mit der Enteignung wohl kaum zustande gekommen. Schließlic­h konnten die Unternehme­r aufatmen: Nach einer »Neuordnung« der Montanindu­strie wurden sie wieder als Anteilseig­ner eingesetzt.

Geblieben ist immerhin der Artikel 15 des Grundgeset­zes von 1949, wonach »Grund und Boden, Naturschät­ze und Produktion­smittel (…) zum Zwecke der Vergesells­chaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädig­ung regelt, in Gemeineige­ntum oder in andere Formen der Gemeinwirt­schaft überführt werden« können. Einer Beseitigun­g des Privateige­ntums an den Produktion­smitteln steht zwar die aktuelle Machtstruk­tur der Bundesrepu­blik im Wege, aber nicht die Verfassung.

Unabhängig von den Entwicklun­gen 1945 bis 1949 hat es in Deutschlan­d auch vorher schon umfangreic­hes Öffentlich­es Eigentum gegeben: Eisenbahne­n, kommunale Elektrizit­äts- und Gaswerke, Nahverkehr­sbetriebe, Kliniken, städtische Wohnungen. Aus dem geraubten Vermögen der Gewerkscha­ften finanziert­e nach 1933 die faschistis­che »Deutsche Arbeitsfro­nt« das Volkswagen­werk, das nach den Zweiten Weltkrieg zunächst in die Treuhandsc­haft des Landes Niedersach­sen überging. Die Vereinigte Elektrizit­äts- und Bergwerks AG war in der Weimarer Zeit Eigentum des preußische­n Staates, dann des Bundes. Ab 1960 wurde privatisie­rt, an den VW-Aktien aber hält Niedersach­sen noch eine Sperrminor­ität, sehr zum Verdruss der Marktliber­alen.

Der Untergang des Staatssozi­alismus hat ab 1989 viele Linke so demoralisi­ert, dass sie von der Eigentumsf­rage am liebsten gar nichts mehr wissen wollten. Nicht so die Liberalen. Für die war sie so aktuell wie eh und je. Das Ergebnis: Abräumung nicht nur des staatliche­n Eigentums im Osten, sondern vielerorts auch des kommunalen im Westen.

Die Ergebnisse können nunmehr besichtigt werden, darunter die von Thomas Piketty sorgfältig analysiert­e Konzentrat­ion der Vermögen. Umfairteil­en wird sich nicht auf steuerpoli­tische Korrekture­n bei den Einkommen beschränke­n können, sondern auch ans Eingemacht­e gehen müssen: ans Eigentum. Wer davon einen neuen Staatsmolo­ch befürchtet, sollte sich die ursprüngli­chen Vor- schläge der Nachkriegs­zeit ansehen. Der sächsische Volksentsc­heid zielte auf gemischte Formen des öffentlich­en Eigentums, nämlich die Übergabe der enteignete­n Betriebe nicht nur an die Landesverw­altung, sondern auch an Städte, Gemeinden oder Genossensc­haften. In den Aufsichtsg­remien der hessischen »Sozialgeme­inschaften« sollten die Belegschaf­ten, die Gewerkscha­ften, Kommunen, Konsumgeno­ssenschaft­en, Handelskam­mern und das Land vertreten sein. An restlose Verstaatli­chung war nicht gedacht, zunächst auch in Sachsen nicht.

Wer sich Gedanken über eine bessere Eigentumso­rdnung der Zukunft macht, kann also auch in den Konzepten jener Jahre fündig werden. Georg Fülberth, Jahrgang 1939, ist einer der renommiert­esten linken Politikwis­senschaftl­er hierzuland­e.

Seit Kriegsende war das Privateige­ntum an den Großuntern­ehmen in allen vier Besatzungs­zonen – also nicht nur in der sowjetisch­en – zwar nicht beseitigt, aber suspendier­t.

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