Churchills Rede in Fulton vom März 1946, der Kalte Krieg und die Propaganda.
Vor mir liegt ein Dokument des Kalten Krieges. Der Autor: ich selbst. Zwischen die grau marmorierten Pappdeckel einer Klemm-Mappe aus DDRProduktion gezwängt, geben gut 100 Seiten mit Maschinenschrift Auskunft über das Thema »Der Beitrag des außenpolitischen Journalismus zur offensiven Auseinandersetzung mit der ideologischen Diversion durch Massenmedien der BRD«. Das Ganze wird »untersucht und dargestellt« unter anderem an Texten der Tageszeitung »Neues Deutschland«.
Meine Diplomarbeit an der KarlMarx-Universität Leipzig, Sektion Journalistik. Fertiggestellt im April 1978. Mithin vor genau 38 Jahren. Und durch Fäden des Schicksals, na ja, zumindest der Historie verbunden mit einem anderen markanten Ereignis, das sich dieser Tage zum 70. Mal jährte: Am 5. März 1946 hielt Winston Churchill im Westminster College in Fulton (US-Bundesstaat Missouri) seine »Iron Curtain«-Rede.
Großbritanniens berühmter Weltkriegspremier, seit der Unterhauswahl vom Juli 1945 Oppositionsführer, verkündete damals: »Von Stettin an der Ostsee bis Triest an der Adria hat sich ein Eiserner Vorhang auf Europa herabgesenkt. Dahinter liegen all die Hauptstädte der alten Staaten Mittel- und Osteuropas. Warschau, Berlin, Prag, Wien, Budapest, Belgrad, Bukarest und Sofia. Diese berühmten Städte und die Bevölkerung ringsum liegen alle im sowjetischen Wirkungskreis, so muss ich es nennen, und unterliegen, auf die eine oder andere Weise, nicht bloß sowjetischem Einfluss, sondern zu einem sehr hohen und in einigen Fällen zunehmendem Maße der Lenkung durch Moskau.«
Der »Eiserne Vorhang« bezeichnet ursprünglich eine Brandschutzvorrichtung, die bei Ausbruch eines Feu- ers auf der Theaterbühne verhindern soll, dass die Flammen auf den Zuschauerraum übergreifen. Den Begriff aus der Bühnentechnik in die Politik übertragen zu haben, ist keine Erfindung Churchills (unter anderen tat dies NS-Propagandaminister Joseph Goebbels im Februar 1945 mit Blick auf die Jalta-Konferenz der Alliierten). Doch als (westliche) Bezeichnung für die militärische und politische Abschottung des sogenannten Ostblocks wurde der »Eiserne Vorhang« aus der Rede in Fulton fortan prägend in des Kalten Krieges Propagandaschlachten.
Waren es »Schlachten ohne Tote«, wie der deutsche Titel eines Klassikers über »Psychological Warfare« – Psychologische Kriegführung – verhieß? Dessen Autor Paul Myron Anthony Linebarger (1913-1966), Professor für Ostasienwissenschaften an der Washingtoner Johns-HopkinsUniversität, war vor allem als Science-Fiction-Schriftsteller unter dem Pseudonym Cordwainer Smith bekannt geworden. »Psychological Warfare« (1948/54) schlägt den historischen Bogen von Gideons biblischer Schlacht gegen die Midianiter bis zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Es erschien 1960 auf Deutsch und ist ungeachtet veralteter Begrifflichkeiten nach wie vor lesenswert. Beim Schreiben meiner Diplomarbeit (die mir »Westliteratur« zugänglich machte) gab mir das Werk wertvolle Anregungen.
Allerdings: Ohne Tote gingen bekanntlich auch die Schlachten des Kalten Krieges nicht ab. Was die Geschichte des ab 1961 als »Antifaschistischer Schutzwall« an der DDRWestgrenze errichteten – wahrlich »eisernen« – Sperr-Vorhangs drastisch dokumentiert. Wer – wie der Autor – an dieser Grenze stand, mit dem Befehl, Grenzverletzer »festzunehmen oder zu vernichten (!)«, dürfte die »Schießbefehl«-Vorwürfe an die Adresse der AfD als einigermaßen grotesk empfinden. Der »Antifaschistische Schutzwall« gehörte übrigens zu jenen zahlreichen Wortgeschossen beider Richtungen, die als Rohrkrepierer endeten.
Für »Neues Deutschland«, gegründet wenige Wochen nach Churchills Rede, war der »Eiserne Vorhang« selbstredend nicht im Bestand des einschlägigen Vokabulars. Realiter indes bestimmten dessen materielle, geistige und psychologische Ausprägungen Form und Inhalt der SED-Zeitung maßgeblich mit – bis er 1989 fiel, der »Vorhang«. Das »ND« stand von Anfang an in vorderster Front des Kalten Krieges, der außerhalb Europas immer wieder von heißen Kriegen begleitet wurde (Korea, Algerien, Vietnam, Nahost, Afrika ...). Die Plattitüden der politischen Propaganda setzten selbst versierten Journalisten und Redakteuren, an denen es im »Zentralorgan« und späteren »Organ des Zentralkomitees« durchaus nicht mangelte, immer wieder Grenzen des Verzweifelns, eiserne, deren Überschreitung unangenehme bis existenzzerstörende Konsequenzen nach sich ziehen konnte.
Daran änderte auch die in den 70er Jahren eingeleitete Ost-West-Entspannungspolitik im Grundsatz nichts. Wie ich in meiner Diplomarbeit feststellte, war in der Ideologie »das Prinzip der friedlichen Koexistenz nicht anwendbar, bzw. nur insofern, als dem Gegner die eigene Ideologie nicht mit Waffengewalt aufgezwungen wird«. Immerhin.
In der Auseinandersetzung mit dem Gegner gefordert war »das scharfe Kontern seiner Lügen, Verdrehungen und Halbwahrheiten«, so die Weisung auf einer ZK-Konferenz 1977. Die Pathetik der Propaganda. Dem politischen Widerpart durfte zu- dem durch eigene Veröffentlichungen nicht noch zusätzliche »Munition« geliefert werden, mit der er gegebenenfalls »zurückschießen« konnte. Das in der nd-Serie von Karsten Krampitz jüngst ausführlich behandelte Jahr 1976 (u. a. BrüsewitzSelbstverbrennung, Biermann-Ausbürgerung) war das Feld für viele verbale Verrenkungen. Dass es auch Wortverbote gab (einmal sogar »Weihnachten«), gehört zu den skurrilen Kollateralerscheinungen.
Die Hoch- und Überschätzung des gedruckten Wortes in der prädigitalen Ära gründete vor allem in seiner dauerhaften Materialisierung schwarz auf weiß, die die DDR-Bürger nach Hause tragen konnten. Ob mehr oder weniger getrost, sei dahingestellt. Im Unterschied dazu eher flüchtig empfunden wurden die Sprach- und Bildsequenzen westlicher Rundfunk- und Fernsehsender, mit deren Empfangs- und Einflussmöglichkeit sich die Partei- und Staatsführung in der Ära Honecker abgefunden hatte. Deshalb, so die bereits zitierte ZK-Konferenz, gehörte der Kampf wider des Gegners »Einfluss- und Diversionsversuche zur täglichen Agitation und Propaganda: die Entlarvung der Methoden, seine Parteilichkeit zu tarnen, seine Weltanschauung unter dem Etikett ›unpolitischer‹ Unterhaltung zu verbreiten ...«.
Mit einem veritablen Feuer, dessen Eindämmung der »Eiserne Vorhang« ursprünglich implizierte, hatte derlei dirigistische Indoktrinierung wenig zu tun. Am Ende blieb lediglich das Glimmen zu Asche gewordener Agitprop-Losungen. Der »Eiserne Vorhang«, der weltöffentlich mit der Berliner Mauer kongruierte, war obsolet geworden und bedurfte nur noch des auf einer Pressekonferenz verlesenen Zettels, um »sofort, unverzüglich« zu fallen.
Über ein Vierteljahrhundert nach Ende und Wende ist er offenbar zurückgekehrt, der Propagandakrieg, der kalte. Allerdings war früher, um ein Wort von Loriot zu variieren, mehr eiserner Vorhang. Zumindest war er klarer strukturiert, in seinen Ausdehnungen und -formungen besser zu erkennen. Was und wer sich heute in den digitalen und analogen Schützengräben sammelt und gegenseitig beschießt, reicht von regulärem Medienmilitär über politische Partisanen, linke und rechte Freischärler bis zu skrupellosen Wortattentätern. Hell- oder Dunkeldeutschland? Faschist oder Antifaschist? Helfer oder Hetzer? Sag’ mir, wo du stehst! Die fixierenden Stich- und Schlagworte beherrschen die Talkshows, Websites, Zeitungsseiten.
»neues deutschland«, inzwischen kleingeschrieben, ist groß mittendrin. Kommentare zu Migrationskrise, CSU-Politik oder Pegida-Demonstrationen lesen sich bisweilen wie Repliken aus einer Zeit, als die Seiten der »Barrikade« noch klar definiert waren. Wiederholt sich die Geschichte? Oder die Propaganda? Es sind wohl eher die Reflexe, mit denen Menschen gemeinhin nach Mustern suchen, auch nach alten, um diese dem aufzuprägen, was unsicher macht, was aus bekanntem Rahmen fällt, was frustriert und irritiert.
Die mentale Teilung der Welt wurde immer wieder bemüht, um Übersicht und Ordnung herzustellen. Vom Licht- und Finsternisreich der spätantiken Manichäer über Calvins Lehre von Erwählung und Verdammung bis zur Ost-West-Dichotomie des Kalten Krieges. Die Welt ist ins Bild zu bringen, ins Weltbild, das passt. Wenigstens eine Weile. Wie das von Churchill in Fulton verkündete.
Für »Neues Deutschland«, gegründet wenige Wochen nach Churchills Rede, war der »Eiserne Vorhang« selbstredend nicht im Bestand des einschlägigen Vokabulars. Das »ND« stand von Anfang an in vorderster Front des Kalten Krieges.
Ingolf Bossenz, Jahrgang 1951, ist Auslandsredakteur des »nd«.