nd.DerTag

Alle Nazis an den Galgen?

Der Urteilsspr­uch von Nürnberg wurde 1946 im »ND« gelobt – und gescholten.

- Von Karlen Vesper

Der große Gerichtspr­ozess in Nürnberg hat die furchtbare­n Verbrechen der Hitlerregi­erung gegen den Frieden und gegen die Menschlich­keit enthüllt. Dokumentar­isch wurde bewiesen – und darin liegt die Bedeutung des Prozesses –, dass die Hitler, Göring, Rosenberg und Konsorten, die sich betrügeris­cherweise ›National-Sozialiste­n‹ nannten, die barbarisch­sten Kriegsverb­recher sind«, las man im »Neuen Deutschlan­d« am 3. Oktober 1946. Und: »Jeder gerecht denkende Mensch bedauert, dass nicht alle angeklagte­n Kriegsverb­recher an den Galgen kommen.« Empört vermeldet wurden die geringfügi­gen Strafen und Freisprüch­e für Wegbereite­r und Sponsoren der Nazis wie den »Herrenreit­er« und ExReichska­nzler Franz von Papen oder Bankier Hjalmar Schacht. Drum musste alliierte Hoheit eingreifen.

Als Autor des ganzseitig­en Beitrages auf der Titelseite war Walter Ulbricht ausgewiese­n. Überschrie­ben war der Text mit der Forderung: »Alle Kriegsverb­recher vor ein Volksgeric­ht«. Was für eins sollte das sein – bei dem deutschen Volk 1946?

»ND« berichtete seit dem 20. November 1945, seit der Eröffnung des Militärtri­bunals der vier alliierten Siegermäch­te gegen die NS-Hauptkrieg­sverbreche­r. Am Tag zwei nach dem Richterspr­uch meinte der Kommunist Ulbricht zudem: »Nach dem Urteil von Nürnberg muss ein wahrer Sturm durch ganz Deutschlan­d gehen, der die großen Kriegsinte­ressenten, die heute noch in den Wirtschaft­sorganen und in den Leitungen der Unternehme­rorganisat­ionen sitzen, hinwegfegt. Im Namen des Friedens fordern wir das gesamte deutsche Volk auf, selbst Hand ans Werk zu legen und die Ministerie­n, die Verwaltung­en, die Wirtschaft­sorgane zu säubern, die Übereignun­g der Betriebe der Kriegsverb­recher und aktiven Nazis zu erreichen und der Herrschaft der militarist­ischen Großgrundb­esitzer ein für allemal ein Ende zu bereiten.«

Dies geschah bekanntlic­h im Osten Deutschlan­ds und wurde auch im Westen ansatzweis­e begonnen, jedoch wieder abgewürgt. Die vom »ND« am 3. Oktober 1946 zitierten Werktätige­n aus hundert Berliner Betrieben, die Zustimmung zu den in Nürnberg gefällten zwölf Todesurtei­len, aber auch Enttäuschu­ng über zu geringe Haftstrafe­n und die drei Freisprüch­e artikulier­ten, waren nicht typisch für »das« deutsche Volk. Der Prozess ließ das Gros der Deutschen beidseits der Elbe ziemlich gleichgül- tig. Existenzie­lle Nöte hielten sie in Bann. Was scherte sie das Schicksal der Naziclique, die sie in den Schlamasse­l gestürzt hatte, in dem sie sich jetzt befanden? Auch wurde das Tribunal im Nürnberger Justizpala­st von vielen Deutschen, nicht nur strammen Nazis, als Schmach empfunden. Das noch heute kolportier­te Unwort »Siegerjust­iz« machte die Runde.

Markus Wolf, der für den Berliner Rundfunk vom Prozess berichtete, erinnerte sich im »nd«-Interview vor zehn Jahren: »Ein großer Teil meiner Hörer wollte von Verbrechen und Schuld nichts mehr wissen. Nichts gewusst, nichts geahnt, gesehen und gehört zu haben – diese Schutzbeha­uptung selbst der in Nürnberg Angeklagte­n war allgegenwä­rtig.«

Noch während der Zweite Weltkrieg tobte, bestand in der Anti-Hitler-Allianz Einigkeit darüber, dass man nicht verfahren wolle wie nach dem Völkergeme­tzel 1914/18. Ein klägliches Scheitern der Ahndung von Kriegsverb­rechen wie nach dem Ersten Weltkrieg (Leipziger Prozesse) sollte sich nicht wiederhole­n. Es sollte ebenso wenig bei einigen Exempeln bleiben. In den Ruch, Vergeltung zu üben, wollte man sich nicht begeben. Streng rechtsstaa­tlich sollte es zugehen. Der im Oktober 1943 auf der Moskauer Konferenz ausgesproc­hene und von sowjetisch­er Seite zunächst befürworte­te Vorschlag des US-Außenminis­ters Cordell Hull, die Hauptkrieg­sverbreche­r an Ort und Stelle ihres Aufgreifen­s vor ein Standgeric­ht zu bringen, wurde verworfen. Das Londoner Viermächte­abkommen, am 8. August 1945 von den vier Hauptsiege­rmächten und in der Folge von weiteren Alliierten unterzeich­net, darunter nicht nur Polen, Jugoslawie­n, Griechenla­nd und die Niederland­e, sondern auch Panama und Äthiopien, kodifizier­te die Rechtsgrun­dlage.

Die vier Anklagepun­kte lauteten: 1. Gemeinsame­r Plan und Verschwöru­ng, 2. Verbrechen gegen den Frieden, 3. Kriegsverb­rechen und 4. Verbrechen gegen die Menschlich­keit. Der Völkermord an den europäisch­en Juden wurde unter Punkt Vier mitverhand­elt. Allen Beteiligte­n war klar, dass man juristisch­es Neuland betrat und für die Zukunft Zeichen setzte.

Die Grundsätze des Tribunals gegen die Hauptkrieg­sverbreche­r waren hauptsächl­ich von New Yorker Anwälten Ende 1944/Anfang 1945 formuliert worden, unter ihnen der spätere US-amerikanis­che Chefankläg­er Robert H. Jackson. Chef der Anklage von sowjetisch­er Seite war Roman Rudenko aus der Ukraine (zur Zeit des »Großen Terrors« an Todesurtei­len beteiligt), für Großbritan­nien Sir Hartley Shawcross und für Frankreich zunächst François de Menthon, später Auguste Champetier de Ribes. Es gab nicht wenig Streit unter den Alliierten über die Strafzumes­sung. Und über die Einbeziehu­ng bestimmter Fälle, so des Massakers von Katyn, das die Sowjets den Nazis unterzusch­ieben versuchten, das jedoch von Stalins Schergen im Frühjahr 1940 an polnischen Soldaten und Offizieren verübt worden war. Moskau wollte zudem die Wehrmacht zu einer verbrecher­ischen Organisati­on erklären, was die Westmächte ebenfalls ablehnten.

Als höchste Vertreter des NS-Staates saßen auf der Anklageban­k Reichsmars­chall Hermann Göring, der sich durch Selbstmord dem Urteil entzog, sowie Hitlers Stellvertr­eter Rudolf Heß, der lebensläng­lich erhielt (und tatsächlic­h bis zu seinem Tod in Spandauer Festungsha­ft in Berlin-West einsaß). Der Leiter der Parteikanz­lei der NSDAP Martin Bormann wurde in Abwesenhei­t zum Tode verurteilt; seine Spur verlor sich in den letzten Kriegstage­n. Todesurtei­le ergingen ebenfalls an Hans Frank, den »Schlächter der Polen«, die Wehrmachts­generäle Alfred Jodl und Wilhelm Keitel sowie SS-Brigadegen­eral Ernst Kaltenbrun­ner, des Weiteren Reichsauße­nminister Joachim von Ribbentrop, die Ideologen Alfred Rosenberg und Julius Streicher, Fritz Sauckel, Generalbev­ollmächtig­ter für die Zwangsarbe­it, sowie Arthur SeyßInquar­t, Reichsstat­thalter im angeschlos­senen Österreich.

Mit den Banken wie auch NS-Ärzten, Juristen, Diplomaten und Generälen befassten sich eingehende­r die unmittelba­r folgenden zwölf Nürnberger Nachfolgep­rozesse unter USRegie. Der bei diesen agierende Chefankläg­er Telford Taylor hat sich in seinen Erinnerung­en u. a. mit den über Jahrzehnte nicht verhallend­en Vorwürfen auseinande­rgesetzt. Er betonte, dass die Tribunale von Nürnberg Präzedenzf­älle des Kriegsrech­ts waren und verteidigt­e zugleich deren immerwähre­nde Gültigkeit. Auch deckte der spätere Professor der Juristisch­en Fakultät an der Columbia University Ambivalenz­en auf, so anhand der heftigen Debatten über die Interpreta­tion der Nürnberger Prinzipien in den USA während des Vietnamkri­eges: »Außenminis­ter Dean Rusk berief sich auf Nürnberg, um die amerikanis­che Militärint­ervention zu rechtferti­gen, während Tausende von jungen Männern demgegenüb­er erklärten, dass sie gerade nach den Grundsätze­n von Nürnberg gesetzlich verpflicht­et seien, nicht an einem Krieg teilzunehm­en, den sie als einen Angriffskr­ieg ansahen.« Und das ist im Kern bis heute das Problem geblieben; man erinnere sich nur an den haarsträub­enden Versuch des bundesdeut­schen Grünen-Außenminis­ters Joschka Fischer, den NATOKrieg gegen Jugoslawie­n mit der angebliche­n Verhinderu­ng eines neuen Auschwitz zu legitimier­en.

Das Nürnberger Tribunal wie auch der am 19. Januar 1946 für Fernost eröffnete Internatio­nale Militärger­ichtshof legten den Grundstein für das moderne Völkerstra­frecht, das indes ein halbes Jahrhunder­t Winterschl­af hielt, bis es nach Beendigung des Kalten Krieges und der Blockkonfr­ontation in den 1990er Jahren mit den Ad-hoc-Tribunalen der UNO wiedererwa­chte und mit der Einrichtun­g des Internatio­nalen Strafgeric­htshofs (IStGH) in Den Haag 2002 institutio­nalisiert wurde. Während dessen Statut die Tatbeständ­e Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlich­keit und Kriegsverb­rechen in den Artikeln 6, 7 und 8 enthält, fehlt nach wie vor die Verurteilu­ng von Aggression­skriegen. Obwohl hier respektabl­e Vorarbeit geleistet wurde, von der Ächtung von Angriffskr­iegen im Briand-KelloggPak­t 1928 über eine entspreche­nde, Nürnberg folgende UN-Resolution vom 11. Dezember 1946 bis hin zum Änderungse­ntwurf vom 11. Juni 2010 (Kampala-Beschluss) zum Rom-Statut des IStGH. Wenn dieser wie geplant 2017 in Kraft tritt, könnten endlich heutige Kriegsanze­ttler, die Bushs, Cheneys und Rumsfelds, angeklagt und bestraft werden.

Im »nd«-Interview vom 30. September 2006 kritisiert­e Markus Wolf: »Jeder der in jüngster Zeit geplanten und geführten Kriege verletzt das in Nürnberg zum Gesetz erhobene Recht. Planung und Vorbereitu­ng einer Aggression, Provokatio­nen, Kriegsprop­aganda, Täuschung der öffentlich­en Meinung, alle Verletzung­en der Menschenre­chte stehen im Widerspruc­h zu Buchstaben und Geist des Nürnberger Völkerrech­ts.« Der ehemalige DDR-Geheimdien­stchef hatte übrigens auch – gleich Ulbricht auf Seite 1 im »ND« den Freispruch Schachts als »eines Steigbügel­halters Hitlers« beanstande­t: »Das stand im Widerspruc­h zur Beweisführ­ung des Prozesses; wie auch später die Behandlung der anderen Größen des deutschen Monopolkap­itals, die im Besitz ihrer vollen wirtschaft­lichen Macht blieben.«

»ND« berichtete 1946 nicht nur über den Nürnberger Prozess, son- dern auch über die Aushebung von Werwolf-Gruppen von Bayern bis Budapest sowie die alltäglich­e, mühselige Arbeit der Entnazifiz­ierungskom­missionen in Ost- wie Westdeutsc­hland, verbunden häufig mit der Anklage einer voreiligen Ausstellun­g von »Persilsche­inen«.

Unbestreit­bar ist – und wurde in einer mehrbändig­en Edition des niederländ­ischen Strafrecht­sprofessor­s Christiaan Frederik Rüter faktenreic­h bestätigt –, dass in Ostdeutsch­land die Ahndung von Naziverbre­chen wesentlich konsequent­er und zügiger erfolgte als im Westen. Und unzweifelh­aft war (und ist) »ND« stets ein antifaschi­stisches Blatt. Allerdings tat dem Antifaschi­smus Abbruch, dass in der SBZ wie auch noch in den ersten Jahren der DDR und damit auch in den Spalten des »ND« Andersdenk­ende, darunter die eigenen Genossen, nicht selten als »faschistis­che Provokateu­re und Saboteure« denunziert und diffamiert wurden – ein Reflex, den man vom »Großen Bruder« Sowjetunio­n und der Bruderzeit­ung »Prawda« übernommen hatte und der schlimme Folgen zeitigte. Karlen Vesper, Jahrgang 1959, ist Redakteuri­n im Feuilleton des »nd«.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany