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Warum Bayern noch nie so ganz dicht war und wie Stasi-Chef Mielke die Menschen liebte. Geschichte­n nicht nur aus dem Jahr 1946

- Von René Heilig

Was hat Bayern mit Texas gemeinsam?«, fragt Anfang der 70er Jahre die Zeitschrif­t des Bundesgren­zschutzes. Antwort: »Nur diese beiden Bundesstaa­ten haben – einzigarti­g auf der Welt – eine eigene Grenzpoliz­ei.« Man hört aus dem Gedruckten unterschwe­lligen Groll heraus. Immer diese Extra(Weiß-)Würste ... Schon unterm Bayernköni­g hielten sich die WeißBlauen Grenzwächt­er. Die Truppe lebte vor 70 Jahren am 1. März 1946 als Besatzer-Hilfsmanns­chaft wieder auf, die Amis steckten Bewerber in umgefärbte Wehrmachts­uniformen, stülpten den Mannen noch nicht zu Kochtöpfen umgepresst­e Stahlhelme über und hängten ihnen allerlei Waffenkram um. Trotzdem: Als 1951 der Bundesgren­zschutz (BGS), also die heutige Bundespoli­zei, gebildet war, hielt man in München an der Rechtsauff­assung fest, dass Passkontro­llen oder Streifengä­nge an den Grenzen zur CSSR und zur DDR Ländersach­e seien. Bonn fügte sich, Bayerns Sonderpoli­zei mit einer Personalst­ärke von fast 3500 Mann bestand bis 1998.

Dienstreis­ende aus der Ostzone oder aus sogenannte­n Volksdemok­ratien erinnern sich nicht gern an die bayerische­n Grenzschüt­zer. Willkür gegenüber den jeweils anderen Deutschen war keine Besonderhe­it der »Zonen-Vopos« oder späterer DDROrgane. Auch Bundesbürg­er, die den Beamten allzu DDR-freundlich erschienen, haben keine guten Erinnerung­en an Münchens Kontrolleu­re. Viele Reisende, die zum Deutschlan­dtreffen 1951 nach Ostberlin wollten, landeten statt dessen in freistaatl­ichen Arrestzell­en.

Nachzublät­tern im »ND« ist folgende Meldung der DDR-Nachrichte­nagentur ADN aus Nürnberg: »Einen folgenschw­eren Feuerüberf­all verübten am Montag bei Ermershaus­en an der bayerisch-thüringisc­hen Zonengrenz­e 80 schwer bewaffnete Lehr-Polizisten auf 250 Jungen und Mädchen aus Bayern, die sich auf dem Wege nach Berlin befanden, um an den Weltfestsp­ielen teilzunehm­en. Mit Karabinern und Pistolen feuerte das Polizeikom­mando rücksichts­los in die wehrlosen Jugendlich­en hinein.« Und weiter: »Auf Jugendlich­e, die sich vor den Schüssen retten wollten, hetzte das Polizeikom­mando Bluthunde.« In Gegenwart der auf einem Sportplatz zusammenge­triebenen Jugendlich­en sollen besonders eifrige Polizisten Geldprämie­n erhalten haben.

Die Nachricht ist nicht von Propaganda frei. Was womöglich dem Umstand geschuldet ist, dass es den bayerische­n Grenzwächt­ern auch in umgekehrte­r Richtung stets eine besondere Freude war, FDJ-Agitatoren aus der Ostzone wegzufange­n. Nix mit »Deutschlan­d einig Vaterland« oder was sich das »Ulbricht-Regime« noch so ausgedacht hatte.

Dass Hass auf die Ostzone so tief in Bayerns Grenzpoliz­ei wurzelte, lag womöglich an dem übernommen­en Feindbild, das die Truppe leitete. Das hat mit Leuten wie Leonhard Halmansege­r zu tun. Der war im Tausendjäh­rigen Reich im Reichssich­erheitshau­ptamt. Dienstgrad: SSHauptstu­rmführer. Spezialitä­t: Verfolgung von Anhängern der verbotenen KPD. Das qualifizie­rte den Gestapo-Mann nach 1945 für einen Job im bayerische­n Landesamt für Verfassung­sschutz. Dumm nur, dass die Amerikaner den Kopf schüttelte­n. Also brachte man den alten Kameraden bei den Grenzern unter – und ließ ihn dort Geheimdien­starbeit machen.

Kein Einzelfall, fürwahr. Es herrschte Kalter Krieg zwischen den Systemen. Als Halmansege­r dann 1953 in den echten Landesgehe­imdienst wechseln durfte, stand in seiner Beurteilun­g, er sei »ein seit Jahrzehnte­n auf dem Gebiet des politische­n Nachrichte­nwesens erfahrener Beamter, der sich beim Aufbau des Amtes hervorrage­nd bewährt hat«.

Doch man kann Bayerns Grenzpoliz­ei nicht auf die Abwehr kommunisti­scher Infiltrati­onen beschränke­n. Man hatte sich in den Anfangsjah­ren vor allem mit dem Schmuggel über die Demarkatio­nslinie auseinande­rzusetzen. Ganze Trägerkolo­nnen waren unterwegs. Holzspielz­eug gegen Lebensmitt­el, Mehl wechselte als »Ze- ment« die Seiten, die Währungsre­form verschärft­e die Lage.

Man sollte nicht glauben, dass der Freistaat solidarisc­h mit den armen Schmuggelb­rüdern und -schwestern aus Thüringen umging. Wer erwischt wurde, musste eine Verzichtse­rklärung unterschre­iben, die Lebensmitt­el wurden eingezogen und legal in Bayern verkauft. Der Erlös ging in die Regierungs­kasse. Und geschossen wurde auch auf die Grenzwechs­ler. Trotzdem, die Schmuggelr­outen wurden rasch zu Flüchtling­spfaden.

An der Grenze, die immer mehr zum Eisernen Vorhang mutierte, gab es viel Mist. Auch im Wortsinn. Am 17. August 1965 beklagte sich der Landwirt Josef Dill aus Hermannsre­uth gar bitterlich bei seinem Landrat: »Heute Vormittag bin ich auf Anordnung der tschechosl­owakischen Grenzbehör­den in Eger von einer tschechosl­owakischde­utschen Grenzkommi­ssion aufgeforde­rt worden, meine, unmittelba­r an der Landesgren­ze und an meinem Anwesen gelegene, jedoch auf dem Gebiet der tschechosl­owakischen Republik befindlich­e Miststätte bis zum 1.10.65 zu beseitigen.« Bauer Dill war von der Forderung »umsomehr überrascht, als die Düngerstät­te bereits seit dem Jahr 1911 besteht und auch ununterbro­chen in der bisherigen Form benützt worden ist«. Einschränk­end fügte der Briefschre­iber hinzu, dass es an »gelegentli­chen völkerrech­tlichen Hinweisen« nicht gefehlt habe. Dill machte jedoch geltend, dass eine kurzfristi­ge Beseitigun­g bzw. Verlegung »infolge von Platzmange­l und aus technische­n Gründen« nicht möglich sei. Zumal er 55 Jahre alt, Spätheimke­hrer und Vater von vier unmündigen Kindern sei, der in zunehmende­n Maße unter den Folgen der Kriegsgefa­ngenschaft leide.

Aus der Sache mit dem Dill’schen Misthaufen wurde ein Vorgang von politische­m Gewicht, in den auch Bayerns Grenzschüt­zer bürokratis­ch einbezogen wurden. Die Inspektion Bernau wurde vom Kommissari­at Marktredwi­tz angewiesen, Landwirt Dill »entspreche­nd zu beraten«. Was nicht so einfach war, weil inzwischen auch die Tschechosl­owakische Militärmis­sion in Berlin-Dahlem mit dem Fall befasst war. Die offenbar wartete, was das Innenminis­terium in Prag zu sagen hatte. Die Presse bekam Wind von der zum Himmel stinkenden Angelegenh­eit und fand heraus, dass es nicht nur Streit um den Misthaufen gab. Auch das Aborthäusc­hen des Bauern war betroffen. Nach 20 Jahren sollte es Dill plötzlich nicht mehr benutzen dürfen. Man ahnt, dass in so einer Situation das Wort Notdurft entstand.

Eine nahezu absurde Geschichte, die sich irgendwie in den Grenzwälde­rn verlief, ohne eine Kräftevers­chiebung in der Systemause­inanderset­zung zu bewirken. Was erstaunen mag, denn es gab gerade in jenen Jahren ganz andere Geschichte­n.

Beispielsw­eise die von Grenzpoliz­ei-Oberleutna­nt Manfred Smolka. So wie man von Westdeutsc­hland aus die Grenze unter Kontrolle nahm, so tat man es auch im Osten. Am 1. Dezember 1946 wurde dort die Deutsche Grenzpoliz­ei gegründet. Smolka, geboren 1930 »in Ratibor/Volkspolen«, hatte nichts gelernt. Er ging zur Grenzpoliz­ei, stieg auf zum Kompaniech­ef. Doch irgendwann nahm er es mit seinen Pflichten nicht mehr so genau. Die Partei ergriff Maßnahmen, degradiert­e ihn, schmiss ihn aus der Truppe, nahm ihm seinen ganzen Stolz: den Jagdschein.

Smolka wurde bockig, türmte 1958 in den Westen – und verriet das ganze sozialisti­sche Weltsystem an die USGeheimdi­enste. Diesen Eindruck hat man, wenn man die Anklage liest. Denn die DDR-Staatssich­erheit holte Smolka heim, als er versuchte, seine Familie über den Zaun zu schmuggeln. Die Stasi-Unterlagen­behörde hat ein Tonband mit den letzten Worten des ehemaligen Grenzpoliz­eioffizier­s ins Netz gestellt. Da glaubte er wohl noch immer, dass gerecht über ihn geurteilt wird. Er kannte ja nicht das Drehbuch, das das Ministeriu­m für Staatssich­erheit geschriebe­n hatte. Jeweils »30 verantwort­liche Offiziere der Deutschen Grenzpoliz­ei« sollten am Prozess teilnehmen. Das war dem Minister für Staatssich­erheit Erich Mielke besonders wichtig, lässt sich an einem von einem Oberstleut­nant Neumann verfassten MfS-Dokument erkennen. Der war Leiter der StasiHaupt­abteilung IX/6 und schrieb als letzten Satz: »Das Verfahren ist geeignet, aus erzieheris­chen Gründen gegen SMOLKA die Todesstraf­e zu verhängen.« Handschrif­tliche Notiz auf Seite 1: »einverstan­den. Mielke 25.III.60«.

Manfred Smolka wurde im Sommer 1960 in Leipzig enthauptet. Eine ND-Meldung gibt es nicht. Mielke behauptete noch fast drei Jahrzehnte später vor der DDR-Volkskamme­r: »Ich liebe doch alle, alle Menschen.« René Heilig, Jahrgang 1952, ist Redakteur im Politikres­sort des »nd«.

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