Geliebte Rumpelkammer
Am 12. Juli 1946 wurde in Berlin das Märkische Museum wiedereröffnet – auf einem Grundstück, auf dem früher die »Irrenanstalt für Männer« gestanden hatte.
Der düstere Klinkerbau an der Wallstraße in BerlinMitte erinnert mit seinem mächtigen Turm eher an eine Kirche als an ein Museum. Als »kulturpolitische Bildungsstätte« beschrieb »Neues Deutschland« Anfang der 1970er Jahre das Märkische Museum. Die Achtklässler der Köpenicker Russisch-Schule, die sich mit ihrer Klassenlehrerin an einem Herbsttag 1970 zur Museumsexkursion zum Köllnischen Park aufgemacht hatten, schüchterte beides ein, ohnehin sorgte ein Ausflug in die Geschichte Berlins schon damals bei 13- und 14-Jährigen für gedämpfte Begeisterung.
Der Museumsbesuch geriet zum Eilmarsch durch eine schier endlose Reihe überfüllter Ausstellungsräume, vorbei an Vitrinen voller Pokale, Medaillen und vergilbter Dokumente, Porträts und Texttafeln. Doch es gab auch jene besonderen Momente, wenn der eine oder andere auf Alltagsgegenstände, Möbel oder Fotografien stieß, wie er sie auch aus Großmutters »guter Stube« kannte. Wer am historischen Kaiser-Panorama in 3D die Stadtansichten von 1910 auf sich wirken ließ, bekam eine Ahnung davon, wie das alte Berlin gewesen sein mochte. Eindrucksvoll war auch die Vorführung der mechanischen Musikinstrumente, des Orchestrions oder der »Leierkästen« der Firma Bacigalupo in der Schönhauser Allee, die in den 1970ern sogar noch im Straßenbild auftauchten.
Das Märkische Museum, das als das »größte Heimatmuseum der DDR« galt, ist in jüngster Zeit ein wenig ins Abseits geraten. Das mag auch an seinem Standort liegen – jenseits der angesagten Touristenströme und durch die S-Bahn-Trasse und die Spree abgekoppelt vom Alexanderplatz, dem Nikolaiviertel und der Museumsinsel. Doch das dürfte sich ändern, wenn durch den Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Waisenbrücke über die Spree die Verbindung zwischen Wallund Littenstraße wiederhergestellt wird. Immerhin ist das ehrwürdige Haus das einzige Museum, das über die Geschichte Berlins von der Urzeit über die Stadtgründung 1287 bis ins Heute erzählt. Und es ist ein wirkliches Bürgermuseum. Ging doch die Gründung des »Märkischen Provinzial-Museums« 1874, anders als die der Staatlichen Museen zu Berlin, auf einen Magistratsbeschluss zurück und zeugte vom neuen Selbstbewusstsein der Bürgerschaft der Reichshauptstadt. In der »Berlinischen Monatsschrift« heißt es 2001 dazu: »In kurzer Zeit wurden mehr als 90 000 Exponate zusammengetragen; sie kamen aus Spenden einzelner Bürger, als Sammlungen von Innungen und Zünften.« Wegen permanenter Raumnot zog die Sammlung 1875 vom Roten Rathaus ins Palais Podewil in der Klosterstraße, von dort 1880 ins Köllnische Rathaus in der Breiten Straße, 1899 in die Städtische Sparkasse in der Zimmerstraße bevor sie schließlich ins eigens erbaute Märkische Museum zog. Von der Konkurrenz als »Rumpelkammer« geschmäht, schlossen die Berliner ihr neues Museum bald ins Herz.
Es erscheint folgerichtig, dass 1946 ausgerechnet das Märkische Museum als erstes Museum Berlins wieder öffnete. Das Haus war bei Kriegsausbruch geschlossen worden, Teile der Sammlungen wurden an vermeintlich sichere Orte ausgelagert. Ende April 1945 hatten Wehrmacht und SS das Gebäude in die militärische Verteidigung einbezogen, Panzersperren errichtet und die Waisenbrücke gesprengt, um die Rote Armee am Vormarsch zu hindern. Als dann Anfang Mai in der Innenstadt die Waffen schwiegen, waren 80 Prozent des Märkischen Museums mehr oder weniger stark beschädigt, der Nordflügel eine Ruine, die Gewölbedecke der Großen Halle eingestürzt. Auch ein Fünftel der Bestände war verloren. Dennoch sollen noch im Mai 1945 vier Angestellte im Haus mit den Aufräumarbeiten begonnen haben. Bei der Wiedereröffnung am 12. Juli 1946 standen zunächst nur 15 von ursprünglich 50 Ausstellungsräumen zur Verfügung. »Scherz und Ernst, Freud und Leid in der Berliner Vergangenheit« hieß die erste nach dem Krieg gezeigte Ausstellung, der noch im selben Jahr die Schau »Alte Puppen« folgte. »Neues Deutschland« übrigens nahm von der Wiedereröffnung keine Notiz, was wohl auch an der Papierkontingentierung lag. Am 13. Juli 1946 erschien die Zeitung mit einer vier Seiten »starken« Ausgabe.
Albrecht Henkys, Kurator der zum Stadtmuseum Berlin zählenden Nikolaikirche, war seit 1976 am Märkischen Museum tätig. Er kennt noch manche der Anekdoten, die sich um die Zeit des Neubeginns spannen. »Der damalige Direktor soll von seinen Mitarbeitern verlangt haben, regelmäßig einen Eimer Kohlen mitzubringen«, sagte er im Gespräch mit dem »nd«. Die Beheizung des riesigen Hauses mit 5000 Quadratmetern Ausstellungsfläche, Büros, Werkstätten, Ateliers und Magazinen war bis in die »Neuzeit« problematisch. Er selbst, Henkys, sei mit anderen Museumsmitarbeitern noch mit Schaufeln und Eimern im Einsatz gewesen, wenn der Kohlehandel wieder einmal eine LkwLadung Rohbraunkohle vor dem Haus abgekippt hatte.
Dabei war das Märkische Museum bei seiner Eröffnung am 10. Juni 1908 ein moderner, weil ganz auf den Charakter der Exponate zugeschnittener Bau. Das Grundstück an der Waisenbrücke, auf dem früher die »Irrenanstalt für Männer« gestanden hatte, hatte der Magistrat 1891 erworben. Das Gebäude entstand ab Juni 1899 nach dem Entwurf und unter Leitung des Architekten und langjährigen Berliner Stadtbaurats Ludwig Hoffmann (1852-1932), Schöpfer zahlreicher Schulgebäude und Krankenhäuser, aber auch des Berliner Stadthauses und des Märchenbrunnens im Friedrichshain. Zur Eröffnung am 10. Juni 1908 war selbst Kaiser Wilhelm II. erschienen.
»Als virtuos inszeniertes Ensemble im Stil des Wilhelminischen Historismus zitiert es Architekturvorbilder Norddeutschlands und der Mark Brandenburg«, so beschreibt die 1995 gegründete Stiftung Stadtmuseum Berlin ihr Stammhaus. Mit dem Turm etwa erinnert Hoffmann an den Bergfried der Wittstocker Bischofsburg, mit den gotischen Giebeln an die Pfarrkirche St. Katharina in Brandenburg/Havel. Und vor den Haupteingang postierte er die Nachbildung der Brandenburger Rolandsfigur von 1474. Im Inneren verwirklichte Hoffmann seine Vorstellungen von einem »Erlebnismuseum«. Um die Besucher mit allen Sinnen in vergangene Zeiten zu entführen, gestaltete er Räume und die Innenhöfe ganz im Stil unterschiedlichster Geschichtsepochen. Erlebbar ist dieses Prinzip der stimmungsvollen Inszenierungen bis heute in der »Gotischen Kapelle«, im »Waffensaal« oder im »Zunftsaal«. Albrecht Henkys weiß zu berichten, dass Hoffmann kein elektrisches Licht in der Ausstellung vorsah, um größtmögliche Authentizität zu schaffen. Erst 1925 habe man im Museum, gegen seinen Willen, die erste zeitgemäße Beleuchtungsanlage installiert.
In den 1940er und 1950er Jahren mussten vor allem die schlimmsten Kriegsschäden beseitigt, Schauräume hergerichtet und die Sammlungen erhalten werden. Albrecht Henkys erinnerte daran, dass sich Mitarbeiter des Museums damals sehr um die Bergung historisch bedeutsamer Exponate aus den Trümmern der Stadt verdient gemacht haben. So sei auch eine größere Zahl an Artefakten aus dem 1950/51 gesprengten Stadtschloss geborgen und in den Bestand des Museums übernommen worden.
Inzwischen hatten sich die politischen Verhältnisse grundlegend gewandelt. Die am 7. Oktober 1949 gegründete DDR hatte den Weg zum Aufbau des Sozialismus eingeschlagen. Ihre Hauptstadt war Berlin. Die Westsektoren hatten sich vom Ostteil politisch, wirtschaftlich und administrativ abgespalten. Über die konzeptionelle Neuausrichtung des Märkischen Museums hieß es am 13. Juli 1961 anlässlich des 15. Jahrestages der Wiedereröffnung im SED-Zentralorgan: »Es ist beabsichtigt, einen chronologischen Ablauf von der Urgesellschaft bis zur Gegenwart zu zeigen, wobei den revolutionären Kämpfen der Berliner Arbeiter ein breiter Raum gewidmet wird.«
Der 13. August 1961, die Teilung der Stadt durch den Mauerbau, bedeutete eine Zäsur, in deren Folge sich das Märkische Museum als wichtigstes kulturgeschichtliches Museum der DDR-Hauptstadt entwickelte. Am Ende der 1980er Jahre zählte es dann acht Außenstellen, hatte 300 Mitarbeiter. Es hatte sich zu einem »Museumskombinat«, wie es Henkys bezeichnete, aufgebläht.
Nach dem Ende der DDR kam es ab 1991 zur Neuordnung der städtischen Museumslandschaft. Am 23. Juni 1995 wurde die »Stiftung Stadtmuseum Berlin – Landesmuseum für Kultur und Geschichte Berlins« gegründet. Zu ihm zählten neben 14 kleineren Einrichtungen die beiden großen kulturhistorischen Museen im Ost- und Westteil. Dort gab es seit 1962 das Berlin Museum, das ab 1969 im einstigen Kammergerichtsgebäude in Kreuzberg residierte. Mit der Zusammenlegung der Bestände beider Museen – insgesamt mehr als 4,5 Millionen Objekte – zählt das Stadtmuseum Berlin heute zu den größten stadtgeschichtlichen Museen der Welt. Heute gehören zur Stiftung neben dem Märkischen Museum als Stamm- haus die Nikolaikirche, das EphraimPalais, das Knoblochhaus und das Museumsdorf Düppel.
Der in die Jahre gekommene Hoffmann-Bau wurde von 1996 bis 2001 in ersten wichtigen Schritten saniert, wobei der Wiederaufbau des Nordflügels und die Restaurierung der Ziergiebel vollendet und im Innern die historische Raumstruktur wiederhergestellt und die Große Halle rekonstruiert wurden. Das Museum verspricht einen Spaziergang durch Geschichte, Kultur und Alltag Berlins, 2015 ließen sich 63 845 Besucher darauf mitnehmen.
Seit dem 1. Februar 2016 leitet der Niederländer Paul Spies die Stiftung Stadtmuseum Berlin, und er ist ChefKurator des Landes Berlin im Humboldt-Forum. Vom Bund und Berlin mit 65 Millionen Euro ausgestattet, will er die Häuser der Stiftung räumlich wie inhaltlich modernisieren. Darüber hinaus konzipiert er den BerlinTeil im Humboldt-Forum nach dem Motto »Welt.Stadt.Berlin«. Bereits im Juli will Spies seinen Masterplan vorlegen. Es geht um den Erhalt aller Standorte, um moderne Konzepte, thematische Spezialisierung. Das Märkische Museum charakterisierte er unlängst in einer großen Berliner Zeitung so: »Zu verstaubt, zu voll, zu viel, zu unklar – aber was für ein wundervolles Gebäude.« Dem Haus steht erneut ein Umbau bevor, möglicherweise wird das in der Nachbarschaft leerstehende Marinehaus einbezogen. Spies plant für viel mehr Besucher. Pro Jahr will er 300 000 Menschen ins Humboldt-Forum holen, für das Märkische Museum hält er 200 000 Besucher für realistisch. Tomas Morgenstern, Jahrgang 1956, ist nd-Redakteur für Berlin/Brandenburg.