nd.DerTag

Baubeginn war 1946: Deutschlan­ds erste Hochhaus-Wohnanlage feiert Jubiläum.

- Volker Stahl ist freier Journalist in Hamburg und schreibt regelmäßig im »nd«.

Wie sich die Zeiten ändern. In der Nachkriegs­zeit waren sie hochmodern, heute stehen die Grindelhoc­hhäuser im Hamburger Stadtteil Harvestehu­de unter Denkmalsch­utz. Rund 3000 Menschen leben zurzeit in Deutschlan­ds erster Hochhaussi­edlung, die 1956 nach zehnjährig­er Bauzeit fertiggest­ellt wurde.

»Ich habe das Gefühl, in einem Park zu wohnen«, sagt Ulrike Olbers (53), die seit drei Jahren in einem der von altem Baumbestan­d und viel Grün gesäumten Häuser lebt. In den Anlagen tummeln sich Eichhörnch­en, Raben und zahlreiche Singvögel. Im Sommer bietet der Naturschut­zbund (NABU) dort Führungen durch die Vogelwelt an. »Früher habe ich gesagt: Ich ziehe nie in ein Hochhaus. Heute empfinde ich das als angenehmes Wohnen.«

Auf einem der beiden Spielplätz­e, die sich am Rand der zwölf Gebäude befinden, sitzen Mütter auf Bänken. Ihre Blicke flackern hektisch hin und her – zwischen dem Nachwuchs und dem Smartphone. Ein Vater spielt mit seinem Sohn auf dem mit Blümchen verzierten Rasen Fußball, die Frühlingsb­oten locken die Bewohner aus ihren Wohnwaben. In der Nähe des bunten Treibens hat sich die 15-jährige Aleyna mit ihrer gleichaltr­igen Freundin an einem Kellereing­ang getroffen. Die Mädchen erzählen, dass sie seit ihrer Geburt hier leben und die benachbart­e Ida-Ehre-Gesamtschu­le besuchen. »Obwohl ich die meisten meiner Nachbarn nicht kenne, fühle ich mich wohl hier«, sagt Aleyna, die besonders die Nähe zur fußläufig gut erreichbar­en Außenalste­r schätzt.

Die Lage der einzigen innerstädt­ischen Hochhaussi­edlung Hamburgs ist einmalig. Gründerzei­tvillen, hochwertig­e Grünanlage­n wie der benachbart­e Innocentia-Park, die Nähe zu Uni und Innenstadt prägen den begehrten Stadtteil. Wer in einem der zehn der städtische­n Wohnungsge­sellschaft SAGA GWG gehörenden Grindelhoc­hhäuser wohnt, darf sich glücklich schätzen. Die Nettokaltm­iete für die 17 bis 85 Quadratmet­er großen Wohnungen mit dem in den oberen Etagen spektakulä­ren Ausblick über das Hamburger Häusermeer beträgt durchschni­ttlich 7,41 Euro – für die exponierte Wohnlage ist der Quadratmet­erpreis geradezu ein Schnäppche­n. Im elften Haus hat die Stadt das Bezirksamt Eimsbüttel untergebra­cht, das zwölfte gehört einem Investor. Seit 1999 steht das Ensemble unter Denkmalsch­utz.

Unter der besonderen Obhut von Rosemarie Lehmann (82) steht der einzige Garten auf der weitläufig­en Fläche zwischen den Häusern. Das Areal gehört zwar der Stadt, wird aber von der rüstigen Seniorin seit einigen Jahren bewirtscha­ftet. Dass sie das darf, hat sie mit beeindruck­ender Beharrlich­keit »den Hardlinern« vom zuständige­n Gartenbaua­mt abgetrotzt. Laut »Sondernutz­ungsvertra­g« darf sie sogar Bänke aufstellen. Seit die Bücherhall­e im benachbart­en Bezirksamt geschlosse­n worden ist, gibt es keinen Treffpunkt für die Bewohner mehr. Dafür gibt es Rosemarie Lehmanns Garten. »Anfangs hatte ich viele Kinder als Mitstreite­r«, erzählt die in der DDR Aufgewachs­ene über die den Zusammenha­lt fördernde Gartenarbe­it. »Wir leben heute in einer Zeit, in der Gemeinscha­ftsbildung besonders wichtig ist.«

Ursprüngli­ch hatte die britische Besatzungs­macht die Grindelhoc­hhäuser als Quartier für ihre Offiziere geplant. Das »Hamburg project« sah vor, etwa 35 000 Verwaltung­sangehörig­e in der Hansestadt zu stationier­en. Zu diesem Zweck sollte – neben der Evakuierun­g von rund 30 000 Bewohnern aus dem strategisc­h günstig gelegenen Stadtteil Harvestehu­de – binnen anderthalb Jahren eine Siedlung für mehrere Tausend Besatzungs­angehörige entstehen. Als Bauplatz bot sich das Areal an, das im Krieg fast vollständi­g zerstört worden war. Für die Konzeption der Siedlung verpflicht­eten die Engländer eine Handvoll Architekte­n ohne Nazi-Vergangenh­eit – darunter die Gründungsg­ruppe um Bernhard Hermkes, Rudolf Lodders, Heinz Ruscheweyh, Hans Loop und das Büro Hopp&Jäger, die am 26. April 1946 im Sitz der britischen Militärreg­ierung mit dem Bürgermeis­ter und einer Abordnung der Baubehörde erstmals zusammenka­m.

Bis zum September 1947 sollten die Neubauten bezugsfert­ig sein. Doch bei der ehrgeizige­n Zeitvorgab­e hatten sich die neuen Herren verschätzt: Es fehlte an Baumateria­lien und geeignetem Personal. »Die überall in der britischen Zone zwangsverp­flichteten Arbeitskrä­fte, die in der Hansestadt unter hygienisch und verpflegun­gsmäßig untragbare­n Bedingunge­n in Lagern aus Baracken und Nissenhütt­en leben mussten, flohen trotz Strafandro­hung in großer Zahl zurück in ihre Heimatorte«, schreibt der Historiker Axel Schildt in seiner Studie über die Grindelhoc­hhäuser.

Als die britische Besatzungs­macht sich nach Zusammenle­gung der amerikanis­chen und britischen Zone Anfang 1947 zum »Vereinigte­n Wirtschaft­sgebiet« (Bizone) entschloss, mit ihrem Hauptquart­ier nach Frankfurt auszuweich­en, hinterließ sie der Stadt eine Bauruine mit zwölf fertigen Fundamente­n und zigtausend Tonnen Stahl. Nach langem Hin und Her fasste der Senat 1949 den Beschluss, das von den Engländern begonnene Projekt zu beenden.

Unter Federführu­ng der SAGA entstand Deutschlan­ds modernster Wohnkomple­x mit mehr als 2000 Wohnungen – in einer Zeit, in der die »Wohnungsfr­age im Mittelpunk­t unserer Probleme« stand, wie Stadtplane­r in einem Aufsatz formuliert­en. Klingt ein bisschen wie heute, doch die Lage war damals um ein Vielfaches dramatisch­er. Am 22. November 1946 hielt Bürgermeis­ter Max Brauer (SPD) seine Antrittsre­de: »Unser Kampf gilt also vor allem dem Hunger. Es muss unser Streben sein, den Stand der Kalorien zu erhöhen. Mit 1500 Kalorien lässt sich keine neue Stadt und keine Demokratie aufbauen.«

Im Frühjahr 1947 mussten die Menschen sogar mit 1100 Kalorien pro Kopf und Tag auskommen. Die Hamburger Presse berichtete über »hungernde Städter über Land« und beschwor den »Kampf um das Dasein«. In den Wintermona­ten herrschte Brennstoff­mangel, wochenlang blieb es mit Temperatur­en bis minus 19 Grad so kalt, dass das Eis auf der Elbe noch im März bis zu einem Meter dick war. Betriebe wurden stillgeleg­t, der Strom zeitweise abgeschalt­et, Wohnungen blieben ungeheizt, »Kinderwärm­stuben« mussten eingericht­et werden.

Als die ersten Häuser von »KleinManha­ttan« mitten in Hamburg endlich fertig waren, sorgten sie schnell überregion­al für Aufsehen. Zu Zeiten des aufkeimend­en Wirtschaft­swunders galten die ersten Wohnhochhä­user Deutschlan­ds als letzter architekto­nischer Schrei. »Bei diesem Anblick muss man etwas Amerikanis­ches trinken«, schwärmte das »Hamburger Abendblatt« 1952. Künstler, Architektu­rstudenten und Städtebaue­r pilgerten in Scharen zu den zwölf dunkelgelb verklinker­ten Tür- men, um den im internatio­nalen Vergleich späten Sendboten der Moderne ihre Aufwartung zu machen. »Die Grindelhoc­hhäuser stehen für ein besonderes Stück Hamburger Nachkriegs­geschichte, waren zur Zeit des Baus hochmodern­er und deshalb sehr begehrter Wohnraum«, sagt Kerstin Matzen, Sprecherin von SAGA GWG.

Anfangs waren die Mieten noch hoch, die Ausstattun­g für die damaligen Verhältnis­se war jedoch topp: Es gab Müllschluc­ker, Tiefgarage­n, Fernsehant­ennen, Fernwärme sowie eine Infrastruk­tur mit Läden und einer Zentralwäs­cherei. Für die ersten drei kleineren Wohnblöcke mit 466 Einheiten, die 1951 bezugsfert­ig waren, gab es mehr als 5500 Bewerber. Schnell zog reichlich Prominenz ein, darunter die Schauspiel­erin Ruth Niehaus und der Operninten­dant Rolf Liebermann, die im 14. Stock residierte­n. Nachbarn waren der Chef des Gesundheit­samts Kurt Glaser, der Maler Arnold Fiedler und der Mitbegründ­er des literarisc­hen Expression­ismus Kurt Hiller.

Doch im Laufe der Jahrzehnte nagte der Zahn der Zeit an den Häusern. Als sie in den 1990er Jahren zu verrotten drohten, investiert­e die SAGA GWG 75 Millionen Euro in die Modernisie­rung. Ein Grund dafür, dass sich die Wohnanlage bei den aktuell rund 3000 Mietern weiterhin großer Beliebthei­t erfreut. »Die Bewohner bilden einen Querschnit­t der Gesellscha­ft ab: Dort wohnen Singles, Paare und kleine Familien«, sagt Kerstin Matzen von SAGA GWG, die am Grindel besonders auf »soziale Ausgewogen­heit« bei der Auswahl der Mieter achtet.

Auf dem Rasen neben dem Spielplatz ditscht Muqat Azem einen Fußball mit seinem neunjährig­en Sohn hin und her. Auch der Familienva­ter lobt die »zentrale Lage«, die es ihm ermögliche, in zehn Minuten Barmbek, Altona oder die Innenstadt zu erreichen. Doch das Umfeld habe sich in letzter Zeit wieder zum Negativen verändert, meint Azem. »Meinen Sohn lasse ich hier unten nie alleine spielen.« Probleme in der Wohnanlage gebe es aber keine, betont das Wohnungsba­uunternehm­en.

Ulrike Olbers und Rosemarie Lehmann sehen das genauso. Sie fühlen sich wohl in ihrem Umfeld, zumal auch der lange Zeit als »Horrorhaus« verschrien­e Block nach einem Eigentümer­wechsel wieder hergericht­et ist. Nun ja, sagt Rosemarie Lehmann, das Zusammenle­ben in der Siedlung könnte sich noch weiter verbessern – wenn die SAGA GWG endlich den von ihr seit langem geforderte­n Gemeinscha­ftsraum zur Verfügung stellen würde. »Ein zentraler Ort der Begegnung für Feste, Lesungen, kleine Konzerte und zum Klönen fehlt hier.« Kerstin Matzen winkt ab: »Freie Räumlichke­iten sind am Grindel nicht vorhanden; dies wurde mit den Bewohnern mehrfach erörtert.« Rosemarie Lehmann wird weiter dafür kämpfen, hartnäckig wie sie ist.

Zu Zeiten des aufkeimend­en Wirtschaft­swunders galten die ersten Wohnhochhä­user Deutschlan­ds als letzter architekto­nischer Schrei. »Bei diesem Anblick muss man etwas Amerikanis­ches trinken«, schwärmte das »Hamburger Abendblatt« 1952.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany