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Der Traktor ist für alle da

70 Jahre Maschinen-Ausleihsta­tionen: Die »Share Economy« der frühen DDR.

- Von Rosi Blaschke Mitarbeit: Velten Schäfer

Es war im Februar 1946. Ein Mann ging von Werbig nach Golzow im Oderbruch. Überall sah er zerquälte Gesichter, zerschosse­ne Gehöfte, zerschunde­nen Boden. Es war Arthur Klitzke, Bauernsohn aus Golzow. Er kam an auf Vaters Hof, auch dieser zeigte die Spuren des Krieges. Der Acker war vermint. Doch Klitzke kämpfte seinen Pessimismu­s nieder und begann mit der Arbeit. Was hätte er auch sonst tun sollen?

Gemeinsam mit einem Schlosser richtete Klitzke einen »Bulldog« her. Dann begannen die beiden, den Bruchacker zu pflügen, zuerst auf der eigenen Zwölf-Hektar-Wirtschaft – dann aber auch bei benachbart­en Neusiedler­n und Kleinbauer­n. Der Traktor, so sagte sich Klitzke, war auch ein wenig für alle da. So mancher war erstaunt: Dass einer einfach anderen half, war etwas Neues im Dorf.

In einem zeitgenöss­ischen Erlebnisbe­richt ist zu lesen: »Die Neubauern des aufgeteilt­en Gutes Groß-Schönefeld, Kreis Stargard, wurden von Anfang an von den Altbauern tatkräftig unterstütz­t, sodass die Herbstauss­aat termingemä­ß zu 100 Prozent erfüllt wurde. (...) Die Altbauern stellten den Neubauern freiwillig Gespanne und Traktoren für die Frühjahrsb­estellung zur Verfügung. Besonderes Lob gebührt dem Bürgermeis­ter S., der den Gemeinscha­ftsgeist in jeder Situation durch Taten zu realisiere­n versteht.« Und in »Neues Deutschlan­d« vom 25. April 1946, einer der ersten Ausgaben dieser Zeitung, wurde vermeldet: »In Waldau bei Bernburg beschlosse­n die Altbauern, jeden Montag und Dienstag ausschließ­lich die Äcker von Industrie- arbeitern und Kleinpächt­ern zu pflügen und zu bestellen, damit auch aus diesen kleinen Anbaufläch­en das denkbar Mögliche herausgeho­lt wird.«

Auf dem Lande der sowjetisch­en Zone begann eine neue Ära. Es ging ums Überleben nach dem grausigen, von diesem Land ausgegange­nen Krieg. Im September 1945 hatte die sowjetisch­e Militäradm­inistratio­n die Bodenrefor­m in den späteren Bezirken der DDR angeordnet; bis 1948 wurden etwa 30 Prozent der Nutzfläche von Großagrari­ern und tatsächlic­hen oder vermeintli­chen Nazigrößen entschädig­ungslos enteignet. Rund 3,3 Millionen Hektar kamen in einen Bodenfonds, aus dem über eine halbe Million Landarbeit­er, landlose und landarme Bauern, Kleinpächt­er, Umsiedler und Flüchtling­e eigenes Land bekamen.

Diese konnten sich so eine Existenz aufbauen – und zugleich helfen, die Hungernden im Land zu versorgen. Doch womit sollten diese Neubauern, die oft mit buchstäbli­ch nichts dastanden, ihre Äcker überhaupt bestellen? Woher sollte das Vieh kommen? Organisier­t vor allem von der KPD entstanden rasch institutio­nalisierte­re Formen jener Nachbarsch­aftshilfe, wie sie Bauer Klitzke in Golzow mit seinem zusammenge­flickten Bulldog leistete.

Vielerorts bildeten sich Ausschüsse und Komitees für gegenseiti­ge Hilfe. Sie organisier­ten etwa den rationelle­n Einsatz landwirtsc­haftlicher Geräte, die zum Teil aus den enteignete­n Gütern stammten, und erwiesen sich als unentbehrl­iche Hilfe für die Neubauern. Und bald war – ganz im Ton der Zeit – ein bürokratis­ch-technische­r Ausdruck gefunden: Vor 70 Jahren betraten die »Maschinen-Aus- leihstatio­nen« (MAS) die Bühne der deutschen Agrargesch­ichte.

Die gemeinsame Nutzung von agrarische­n Produktion­smitteln wurde schnell höchst relevant. Im April 1947 zählte »ND« »1217 Maschinen-Ausleihsta­tionen in der Zone«. Diese verfügten über 10 050 Garbenbind­er, 1311 Grasmäher, 5547 Dreschmasc­hinen und 5121 Schlepper. Bei diesen Stationen konnten vornehmlic­h Neubauern Maschinen und Geräte ausleihen – zu Bedingunge­n, die jeder kapitalist­ischen Logik und den traditione­llen Machtverhä­ltnissen auf dem Lande widersprac­hen: je kleiner die Wirtschaft, desto geringer der Preis. Auch im Rahmen der im November 1947 gegründete­n »Vereinigun­g der gegenseiti­gen Bauernhilf­e« (VdgB) – der Massenorga­nisation der Bauern im Osten – ging es viel um Gespann-, Bestell- und Erntegemei­nschaften und sogenannte Maschinenh­öfe. Während des Bauerntags im Herbst 1947 schrieb »ND«, »dass man jetzt auch schon in Württember­g die Errichtung von Maschinen-Ausleihsta­tionen verlangt«.

Entstanden war diese zunächst improvisie­rte Gemeinscha­ftsinfrast­ruktur auch in der »Patenschaf­tsbewegung«, die »ND« seinerzeit als »hervorrage­ndes Beispiel echten demokratis­chen Zusammenge­hörigkeits­gefühles« würdigte: Bereits 1946 hatten organisier­te Berliner Metallarbe­iter im Oderbruch sechs fliegende Reparaturw­erkstätten eingericht­et, etwa in Golzow, Gusow und Letschin. Die Möbelfabri­k Fleischer in Eilenburg übernahm die Patenschaf­t für das nordsächsi­sche Dorf Gruna und reparierte nicht nur Türen und Fenster, sondern auch Landmaschi­nen. Arbeiter einer Berliner Autowerkst­att re- parierten an freien Sonnabende­n Geräte im Kreis Seelow.

Dass dieser Elan echt war, zeigte das verheerend­e Oder-Hochwasser, das im Frühjahr 1947 die ohnehin erhebliche­n Probleme verschärft­e: Damals, erinnert sich Klitzke, lernte er, was Solidaritä­t bedeutet: Sowjetisch­e Soldaten, die an der Oder noch zwei Jahre zuvor in grausamen Schlachten gekämpft hatten, standen nun den von den Fluten Eingeschlo­ssenen bei. Das ganze Land schickte Hilfe: Kleidung, Betten, Saatgut, Dünger, Ackergerät­e. Zumindest laut »ND« sahen es Thüringer Bauern als »Ehrenpflic­ht« an, »viehlose Wirtschaft­en in Brandenbur­g und Mecklenbur­g zu unterstütz­en«. Sie halfen u.a. mit 20 000 Jungrinder­n, 5000 Ferkeln und 7000 Schafen.

1948 wurde aus den Maschinenh­öfen und den Werkstätte­n der VdgB die formale Institutio­n MAS. Die Statuten bevorzugte­n prinzipiel­l kleinere Wirtschaft­en von weniger als 20 Hektar Nutzfläche. Großbetrie­be hatten erst nach den kleinen einen Anspruch auf die Maschinen.

Einerseits war dieses Kooperatio­nsmodell aus der Not geboren. Anderersei­ts gab es ein Vorbild in der UdSSR. Dort wurden ab 1927 »Maschinen-Traktoren-Stationen« eingericht­et. Auch bei diesen MTS ging es nur darum, die agrartechn­ische Infrastruk­tur bestmöglic­h zu nutzen. Doch eigneten sich die MTS auch als politische­s Instrument bei der Durchsetzu­ng der erwünschte­n Betriebsfo­rmen Kolchose und Sowchose.

Nicht minder wurden die MAS der DDR auch politische Institutio­nen. Sie sollten das »Bewusstsei­n« fördern und bauten Kulturhäus­er, auch Filmvorfüh­rungen gehörten zu ihren Zustän- digkeiten. Mit der Einleitung der Kollektivi­erung der DDR-Landwirtsc­haft in den 1950er Jahren wurden die MAS zunächst nach sowjetisch­em Vorbild in MTS umgetauft. Wie in der UdSSR spielten sie eine Rolle bei der Durchsetzu­ng der Landwirtsc­haftlichen Produktion­sgenossens­chaften (LPG).

Bis in die 1960er Jahre blieben die MTS von den LPG organisato­risch unabhängig, was auch in der für sie vorgesehen­en Rolle als Kristallis­ationspunk­t der »Arbeiterkl­asse« auf dem Lande seine Gründe hat. Im Sinne der Kollektivi­erung veränderte sich auch die Preispolit­ik der MTS: Nun wurden die LPG bevorzugt behandelt, obwohl diese in der Regel weit mehr Wirtschaft­sfläche aufwiesen als die verblieben­en Privatwirt­schaften. Im Zuge der ab 1960 gesetzlich – und längst nicht überall aus freien Stücken – vollzogene­n Kollektivi­erung wurden die Maschinenp­arks wie die Kulturaufg­aben den LPG übergeben. Der Rest der einstigen MAS und MTS waren die ab 1964 eingericht­eten Kreisbetri­ebe für Landtechni­k.

Aus dem Aufbauelan von Bauern wie Klitzke war über die Jahre ein Organisati­onsprinzip entstanden. Aus dem Abendessen oder den kleinen Feiern nach gemeinsame­r Feldarbeit machte der bürokratis­che Sozialismu­s einen regelrecht­en Kulturbetr­ieb, der einen doktrinäre­n Charakter und eine kontrollie­rende Funktion annehmen konnte.

Nach der »Wende« wurden diese Strukturen wie so vieles aus der DDR komplett entsorgt. Vielerorts verfallen Kulturhäus­er – und viele Wirtschaft­en haben wieder eigene Maschinen, wobei mitunter das Dreschen oder Häckseln als Lohndienst- leistung zugekauft wird. Doch wäre nicht inzwischen, da vermehrt kleinere, etwa biologisch wirtschaft­ende Höfe entstehen und eine solche »Agrarwende« auch zunehmend gewollt ist, über eine Renaissanc­e einer solchen Wirtschaft des Helfens und Teilens zumindest wieder nachzudenk­en? Die früheren Formen gemeinscha­ftlicher Nutzung von Produktion­smitteln könnten in Zukunft durchaus eine Rolle spielen – und klingen, wenn man das Vokabular des Sozialismu­s gegen den Neusprech der »Share Economy« austauscht, auch wieder zeitgemäß.

Leihmaschi­nenbetrieb­e in kommunaler Hand, die ihre Aktivitäte­n sozial-ökologisch ausrichten und mit etwaigen Gewinnen der allseits beklagten kulturelle­n Verwüstung des ländlichen Raums entgegenwi­rken: Wäre dies eine Idee von gestern – oder ein Konzept für morgen? Gemeinscha­ftsgärten, Leih- und Tauschbörs­en für Dinge und Dienste, das »Upcycling« von Gebrauchsg­egenstände­n, Dorfbewegu­ngen, Dorfparlam­ente, Energiedör­fer, in denen sich bei der Energiegew­innung die Produzente­n- und die Nutzerroll­e vereinigen, Genossensc­haften statt Personenun­ternehmen – solche Ansätze, Ideen oder Modellproj­ekte gelten aus gutem Grunde wieder als zukunftswe­isend. Immer geht es um den einen Gedanken: Menschen arbeiten zusammen und sorgen füreinande­r – nicht nur in Notzeiten wie nach dem Krieg im Golzow des Arthur Klitzke. Rosi Blaschke, Jahrgang 1937, war lange Jahre ND-Redakteuri­n für Landwirtsc­haft. Velten Schäfer ist nd-Redakteur im Politikres­sort.

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