Am 8. April 1946 wird im zerbombten Berlin die SG Bergmann-Borsig gegründet.
Wer den Krieg erlebt hat, will ihn vergessen – je schneller, je besser. Gegen Wachträume von Flakgeschützen, Luftschutzbunkern und Bombenangriffen ist jede Ablenkung recht. Der Zweite Weltkrieg ist noch kein Jahr vorbei, Berlin liegt in Trümmern, als im frühlingshaften April 1946 der Werkzeugmacher Walter Stellflug aus der Viktoriastraße in Berlin-Wilhelmsruh beim russischen Kommandanten des Stadtbezirkes Pankow vorstellig wird.
Ausgestattet mit einer Bescheinigung des Volksbildungsamtes Pankow, Abteilung Sport, ersucht der Sportfreund Stellflug beim Sowjetischen Militärkommandanten um Zulassung einer Handballspielgemeinschaft Wilhelmsruh: »Wir bitten den Herrn Kommandanten von Wilhelmsruh, die dortige Spielgemeinschaft für Hand- und Fußball in ihrem Sportbetrieb zu unterstützen«, heißt es auf der maschinengeschriebenen Karteikarte.
Die Sowjets staunen, haben aber keine Einwände, binnen kurzer Zeit hat der Hobbyhandballer aus der Sowjetischen Besatzungszone alle Stempel beisammen. Stellflug und seine Mitspieler aus den Stadtteilen Reinickendorf und Rosenthal dürfen fortan mit offizieller Erlaubnis trainieren – die Geburtsstunde der Spielergemeinschaft Wilhelmsruh, die 1950 in BSG Stahl Wilhelmsruh, 1952 in BSG Motor umbenannt werden sollte, um dann von 1972 bis 1990 als BSG Bergmann-Borsig zu firmieren. Nach der Wende wurde aus der BSG folgerichtig die SG BergmannBorsig.
Bergmann-Borsig! Schon dem Namen nach ist der 1949 gegründete VEB Bergmann-Borsig ja ein Unding: ein volkseigener Betrieb, der nicht nur nach den »Bergmann Elektrizitätswerken« benannt wird, dessen Werksgelände und Maschinen er nutzte, sondern auch noch nach Großfabrikant August Borsig! In den Jahren nach 1945 ist eben noch sehr viel möglich – auch eine Würdigung der vielen Arbeiter aus den Tegeler Borsigwerken, die beim Wiederaufbau der Betriebshallen in Berlin-Wilhelmsruh geholfen haben. Wegen ihres tatkräftigen Einsatzes findet sich nicht Lenins oder Stalins Name, sondern der des Geheimen Kommerzienrates Borsig im Titel des volkseigenen Betriebes wieder.
Der VEB auf dem Bergmann-Gelände ist für den Verein prägend: Die Handballfreunde um Walter Stellflug absolvieren 1946 ihre ersten Trainingseinheiten auf einem Spielfeld auf dem Bergmann-Fabrikgelände. Im Speisesaal des Kulturhauses trainieren die Turnerinnen und Turner. Und Vereinsgründer Stellflug wird schon bald der erste hauptamtliche Mitarbeiter der neuen BSG, was er jahrzehntelang bleiben soll.
Immer mehr Sportarten kommen im Laufe der Jahrzehnte bei der BSG hinzu: Tennis (1951), Hockey (1955), Fußball und Volleyball (beide 1956), Kegeln (1961), Bogen- schießen (1968), Tischtennis (1973), Ringen (1976), Judo, Federball, Winterschwimmen (alle 1980). Das Kulturhaus samt Speisesaal wird ein beliebter Veranstaltungsort für Amateurboxabende oder Konzerte, auch SED-Bezirksdelegiertenkonferenzen werden abgehalten in dem Betrieb, dessen Werksgelände direkt an der Staatsgrenze zu Westberlin liegt. 1968 wird im Kulturhaus die DDRMannschaft vor ihrer Abreise zu den Olympischen Sommerspielen in Mexiko-Stadt verabschiedet – die erste eigenständige DDR-Auswahl bei Sommerolympia. 1990 wird im Bergmann-Borsig-Kulturhaus die erste und letzte Miss DDR gekürt.
Aller Tradition zum Trotz ist aus Bergmann-Borsig in den 70 Jahren seit der Vereinsgründung kein allzu berühmter Sportverein geworden. Stets haben sich die Pankower vor allem dem Breitensport gewidmet, bis 1989 sagte man noch Volkssport dazu: Spartakiadevorbereitung, Sport- feste, Erholungssport – bis auf die Ausnahmen Fußball und Bogenschießen war der Verein stets auf die Masse ausgerichtet, die werktätige Bevölkerung. In den DDR-Jahren hatte die Geschäftsstelle der BSG mindestens zwei feste Mitarbeiter und kurz vor der Wende ihr AllzeitMitgliederhoch: 3000 Mitglieder!
Bergmann-Borsig ist ein wohlhabender Trägerbetrieb – der größte Hersteller für Kraftwerkstechnik in der DDR, Exporteur nach Finnland, Indien oder China. »Wir standen bis 1989 dank unseres Trägerbetriebs immer ganz ganz gut da«, erinnert sich Alfred Grzondziel, der in den 50er Jahren als 14-jähriger Handballer zu Bergmann-Borsig kam und in der Wendezeit als Vereinsvorsitzender fungierte. »Selbst die Bogenschützen, die vom DTSB der DDR nicht den höchsten Förderstatus hatten, bekamen von Bergmann-Borsig betriebseigene Barkas-Busse samt Fahrern zur Verfügung«, sagt Grzondziel. »Und die Fußballer hatten sowieso alle Mittel, diese Sportart war immer die Nummer eins.«
Die Fußballer verschaffen sich bereits in den 1970ern einen Namen: Die BSG spielt viele Jahre in der DDR-Liga mit, die immerhin die zweithöchste Spielklasse des Landes war. Zwar kommen nur wenige Hundert Zuschauer, wenn die »Bergmänner« gegen Schifffahrt/Hafen Rostock, Aktivist Schwarze Pumpe oder Lok Armaturen Prenzlau auflaufen, dennoch leistet sich Bergmann-Borsig mit zehn ambitionierten Mannschaften im Nachwuchsund Männerbereich eine durchaus kostspielige Fußballabteilung.
In Wendezeiten sorgt ein spektakulärer Spielertransfer dann schließlich für besonderes Aufsehen, als 1991 zwei unbekannte Nachwuchskicker vom einstigen DDR-Ligisten Bergmann-Borsig in den englischen Profifußball wechseln: Matthias Breitkreutz und Stefan Beinlich gingen zu Aston Villa in die »First Divi- sion«, damals die höchste englische Spielklasse.
Zwar werden sie beim Erstligisten im Birminghamer Stadtteil Aston nicht allzu oft zum Einsatz kommen, dennoch bedeutet der Schritt aus Pankow nach England für beide den Beginn einer Profikarriere: Breitkreutz soll es als Bundesligakicker zu Bekanntheit bringen (Rostock und Bielefeld), Stefan Beinlich nach Engagements bei Hansa Rostock und Hamburger SV sogar ins DFB-Aufgebot. Fünf Mal läuft Beinlich zwischen 1998 und 2000 im Trikot der deutschen Nationalmannschaft auf.
Noch heute denkt Stefan Beinlich gerne an Bergmann-Borsig zurück. »Ich hatte eine gute Zeit dort«, sagt er im April 2016 gegenüber »nd«. »Ich habe da im Nachwuchs eine Menge guter Spiele gemacht.« Beinlich stammt aus Pankow: Er sei mit 16 beim Nachwuchs des BFC Dynamo aussortiert worden, »wegen Herzrhythmusstörungen«, erzählt er: »Da fing ich eine Elektrikerlehre bei Bergmann-Borsig an, und schon bald lag es nahe, dass ich es bei den BSGJunioren probiere!«
Als der Verein im Februar in Berlin-Buch sein 70. Jubiläum feierte, war Stefan Beinlich allerdings nicht dabei. »Es gibt keinen Kontakt mehr, da sich die Fußballabteilung schon 1990 als Pankower Fußballverein (PFV) Bergmann-Borsig selbstständig gemacht hatte«, sagt Beinlich, der heute in Rostock lebt. Der PFV existierte nur wenige Jahre. Auch an die alten Wirkungsstätten zieht es den ExNationalspieler nicht mehr. »In der Nordendarena, wo wir damals aufliefen, spielt heute Concordia Wilhelmsruh«, erzählt Beinlich. Dennoch habe Bergmann-Borsig eine entscheidende Rolle in seiner Karriere gespielt: »Ich hatte das Glück, dass bei unserem Trainingslager in den Niederlanden auch mal ein Scout von Aston Villa vorbeischaute.«
Als nach 1990 aus der großen Betriebssportgemeinschaft ein eingetragener Verein geworden war, wirken bis zu zehn Mitarbeiter in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit, die Mitgliederzahl sinkt dennoch schnell auf 500. Immerhin vollbringt Bogenschützin Cornelia Pfohl die größten Erfolge für den Verein: Olympiasilber 1996 und -bronze 2000 mit der deutschen Mannschaft. Doch auch die Bogenschützen haben den Stammverein mittlerweile verlassen und den Bogensportclub BBBerlin gegründet – mit einem BB im Namen als Reminiszenz an den alten Verein. Bei original Bergmann-Borsig sind heute Turnen, Tennis und Tischtennis die prägenden Sportabteilungen. Der Schweizer Konzern ABB, der jetzt auf dem Wilhelmsruher Werksgelände firmiert, unterstützt den Verein – wenn auch nicht so vollumfänglich, wie es sein Vorläufer einst tat. Zum Jubiläum anno 2016 sind in der Mitgliederstatistik des Landessportbundes Berlin unter »SG Bergmann-Borsig e.V.« fast 1000 Mitglieder verzeichnet.
Der Zweite Weltkrieg ist noch kein Jahr vorbei, Berlin liegt in Trümmern, als im frühlingshaften April 1946 der Werkzeugmacher Walter Stellflug aus der Viktoriastraße in Berlin-Wilhelmsruh beim russischen Kommandanten des Stadtbezirkes Pankow vorstellig wird.
Jirka Grahl, Jahrgang 1971, leitet das Sportressort von »nd«.