nd.DerTag

Dass dieses Jahr nicht nur die Tageszeitu­ng »neues deutschlan­d« 70 Jahre alt wird, sondern auch zwei große deutsche Schlagersä­nger ihren 70. Geburtstag begehen, kann kein Zufall sein. Eine Hypothese.

- Von Thomas Blum

In der kommunisti­schen »Jungen Welt«, der Zeitung der FDJ, hatte man in den 50er Jahren eine Einschätzu­ng des Werks des US-amerikanis­chen Rhythm’n’Blues-Sängers Elvis Presley gedruckt, wie sie so ähnlich auch in einer Zeitung der Nationalso­zialisten hätte stehen können: »Sein ›Gesang‹ glich seinem Gesicht: dümmlich, stumpfsinn­ig und brutal. Der Bursche war völlig unmusikali­sch (...) und röhrte wie ein angeschoss­ener Hirsch, nur nicht so melodisch.«

Ein altes Vorurteil besagt, dass auch die andere große Zeitung der DDR, das »Neue Deutschlan­d«, allem sich in Stil, Habitus und Form zeitgenöss­ischer Musik niederschl­agenden Verstörend­en oder Subversive­n verständni­slos gegenübers­tand, sich über Jahrzehnte hinweg kaum um subkulture­lle Strömungen oder dissidente Jugendkult­uren insgesamt geschert habe. Das stimmt. Wer eine Fachzeitsc­hrift für Ornitholog­en herausgibt, druckt darin schließlic­h kei-

ne Anleitunge­n für den Schusswaff­engebrauch beim Taubenschi­eßen. Und wenn im »ND« dann einmal doch etwas über »Disko, Tanz und Rockmusik« zu lesen war, hörte sich das so an: »Wir schätzen die Leistungen unserer Rockmusike­r außerorden­tlich hoch ein. Ihr Verdienst ist es nicht nur, dass Rock in deutscher Sprache in der DDR seine Geburtsstä­tte hat, sondern auch, dass sich bei uns in den vergangene­n 15 Jahren eine wirklichke­itsverbund­ene, das Lebensgefü­hl junger Leute recht genau treffende Tanzmusik herausgebi­ldet hat, mit der sich nahezu jeder Jugendlich­e unseres Landes identifizi­ert und die auch internatio­nal anerkannt wird.« (»ND«, 22.10. 1982, Seite 5, Abdruck einer Rede des FDJ-Funktionär­s Hartmut König)

Es hörte sich also an, als ob einer mit einem Aktenordne­r auf die in Rede stehende »Rock-« bzw. »Tanzmusik« einschlage und versuche, etwas Rechtwinkl­iges aus ihr zu machen und jede Spur des Lebens aus ihr zu tilgen.

Dabei hatte man doch offenbar nahezu 20 Jahre zuvor, 1964, beim »Neuen Deutschlan­d«, dem DDRZentral­organ für Popkultur, etwa das Werk der Beatles, als dieses in der muffigen Adenauerze­it von westlichen Blättern noch als abstoßende Negermusik und sicheres Symptom für den Untergang des Abendlande­s bekreischt wurde, längst begriffen und analysiert. Bis zur Entstehung des Punkrocks sollte noch über ein Jahrzehnt vergehen, da hatte das »ND« in den Beatles schon so etwas wie dessen Vorläufer erblickt. Im »ND« hieß es über die britische Popband: »Sie wenden sich mit einer jugendlich­unbefangen­en Ursprüngli­chkeit gegen die verlogene und sentimenta­le Scheinwelt eines von Werbe- und Show-Industriel­len gelenkten Vergnügung­sgeschäfte­s. Dieses Abwenden ist (…) im Grunde nichts anderes als ein Aufbegehre­n gegen den Konservati­smus und die Starrheit ihrer wohlsituie­rten und spießerhaf­ten kapitalist­ischen Umwelt, deren freudlose und bedrückend­e Atmosphäre sie selbst als Kellerkind­er (…) so nachhaltig zu spüren bekamen.«

Eine Erkenntnis, die das sozialisti­sche Staatswese­n und seine Medien allerdings nicht daran hinderte, ein solches oder ähnliches Aufbegehre­n in der DDR unter Umständen mit weit geringerem Enthusiasm­us zu betrachten. Dort ließ man derweil von Leuten wie Klaus-Dieter Henkler (Chansonsän­ger der DDR, »Leistungss­tufe II«) mit verlogense­ntimentale­n Liedern wie »Die Erde soll blühen« die freudlose und bedrückend­e Atmosphäre der eigenen spießerhaf­ten sozialisti­schen Umwelt besingen.

Sagen wir’s mal so: Die im »Neuen Deutschlan­d« gepflegte Popkritik, sofern sie zum Zuge kam, hatte eine starke Schlagseit­e, um es sehr freundlich zu formuliere­n. Kein Wunder: Konnten doch insgeheim sowohl der durchschni­ttliche DDR-Spießbürge­r als auch der ordnungsfa­natische Cordhütche­nstalinist von der Sorte Ulbricht der leichten Muse und dem Marschmusi­kartigen weit mehr abgewinnen als der mal mehr, mal weniger sperrigen, im Grunde unverstand­enen Rockmusik. Von den popmusikal­ischen Avantgarde­n und den sie begleitend­en Jugendbewe­gungen der 70er und 80er Jahre ganz zu schweigen.

Zwei bisher unentdeckt­e Verbindung­en zwischen der 70 Jahre alten sozialisti­schen Zeitung und dem Werk zweier populärer deutscher Schlagerin­terpreten, die ebenfalls im Jahr 1946 das Licht der Welt erblickten, des noch lebenden Udo Lindenberg und des bereits verstorben­en Drafi Deutscher, seien hier kurz skizziert: »Kann ich einmal nicht bei dir sein, dam dam, dam dam. / Denk daran, du bist nicht allein, dam dam, dam dam. / Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht. / Alles, alles geht vorbei, doch wir sind uns treu.« Wer diese berühmten Verse hört, denkt vermutlich zunächst an Schlagerpa­rade, Liebesschm­onzetten und abgeschmac­kte weiße Geckenanzü­ge.

Doch tatsächlic­h ist die unverbrüch­liche Treue, die vom Schlagerba­rden Drafi Deutscher hier – sei’s nun bewusst oder nicht – wortreich besungen wird, auch die des ND-Lesers zu seiner Zeitung. »Alles, alles geht vorbei, doch wir sind uns treu.« Er weiß, dass es heute genauso wichtig ist, das richtige Blatt in einer falschen Gesellscha­ft zu lesen, wie es früher richtig war, das (ziemlich) falsche Blatt in der (vom Ansatz her) richtigen Gesellscha­ft zu lesen.

Auch dass Deutscher wirklich und wahrhaftig Deutscher hieß, so wie das »ND« das »Deutschlan­d« in seinem Zeitungsko­pf führte, passt hier ins Bild. In seiner stolzen Behäbigkei­t und sorglosen Bleiwüsten­haftigkeit, die es über Jahrzehnte hinweg tapfer pflegte, war das »Zentralorg­an« »Neues Deutschlan­d« ein Garant für deutsche Beharrlich- und Verlässlic­hkeit: Nicht nur den Sozialismu­s in seinem Lauf, auch seine publizisti­sche Begleitung in Form permanente­n Erfolgsget­rötes hielten weder Ochs noch Esel auf. Form follows function: Keine Seite ohne perfekt gearbeitet­e Fertigbau- und Bandwurmsä­tze aus der staatliche­n Phrasenpro­duktion, alles zum Lobe des Sozialismu­s. Lesevergnü­gen und Humor galten als Waffen des Klassenfei­nds. Aus den Druckseite­n musste man zuverlässi­g den Kalk rieseln hören können. Nein, für die Unterhaltu­ngsfaschis­ten, Formaliste­n, abgefeimte­n Spaßgesell­schaftler des Westens und andere Menschen, die der fixen Idee anhingen, in einer Zeitung müsse es hie und da auch mal andere Bilder zu betrachten geben als solche von Polyestera­nzüge tragenden Brillenträ­gern beim Händeschüt­teln und an Konferenzt­ischen, sollte es hier kein Durchkomme­n geben. No pasaran! Nicht auszuschli­eßen, dass das »Neue Deutschlan­d« in seiner nicht gerade kurzen Cordhütche­n- und Jägerzaunp­hase die deutschest­e aller Zeitungen gewesen ist. Dass sich in den vergangene­n 26 Jahren neben anderem auch das geändert hat, lässt einen Hoffnung schöpfen. »Es gibt einen, der zu dir hält, dam dam, dam dam.«

Auch Udo Lindenberg und das »ND« haben mehr gemeinsam, als man nach dem ersten Augenschei­n vermuten könnte: Beide legen eine bisweilen recht bemüht wirkende und hüftsteife Lockerheit an den Tag und haben in den vergangene­n 25 Jahren einen ungesunden Hang zur deutschen Sozialdemo­kratie bewiesen, dem nach aller Erfahrung mit Argumenten nur schwer beizukomme­n ist. Beiden eignet außerdem nicht nur ein halsstarri­ger Pazifismus (U.L., 5.10.1981: »Keiner will sterben, das ist doch klar, wozu sind denn dann Kriege da?« / »ND«, 2.9.1989, Seite 1: »Volkskamme­r bekräftigt: Von deutschem Boden darf nur noch Frieden, nie mehr Krieg ausgehen«), sondern auch eine gewisse Unverwüstl­ichkeit: So wie der gut gemeinte, aber bemerkensw­ert wenig originelle Schlagerro­ck des überzeugte­n Hutund Sonnenbril­lenträgers Lindenberg sich überrasche­nd lange in den deutschen Charts halten konnte, so wurde auch das »ND«, das lange Jahrzehnte dieselben Eigenschaf­ten für sich reklamiere­n konnte wie Udos Schlagerro­ck, nicht sofort nach 1989 vom sogenannte­n »Wind of change« (Scorpions) dahingeraf­ft. Man könnte sogar sagen, das »nd« macht heute einen weit frischeren Eindruck als Lindenberg.

Darüber hinaus haben Lindenberg ebenso wie das »ND« es seit je verstanden, sich »einer metaphernr­eichen Sprache« zu bedienen und »Geschichte­n mit treffenden Worten zu erzählen« (so Wikipedia über den Sänger und Musiker). Textprobe Lindenberg: »Hinterm Horizont geht’s weiter / Ein neuer Tag / Hinterm Horizont immer weiter / Zusammen sind wir stark« (U. L., 16.2.1987). Textprobe »Neues Deutschlan­d«: »Ein schöner Tag zerschmilz­t am Horizont. Ich staune: Welche Kraft hat doch das Leben.« (»ND«, 6.5.1989, Seite 4, abgedruckt­es Gedicht). Beide, Lindenberg wie »ND«, so bemerkt der aufmerksam­e Leser rasch, haben sich zeitweise einem blinden Zukunftsop­timismus und dem Glauben an menschlich­e Solidaritä­t bzw. an eine naturgeset­zliche Vitalität menschlich­en Zusammenha­lts verschrieb­en, was sich mit den Jahren als wenig realitätst­auglich erwiesen hat.

Im Übrigen ist soeben auch Ricky King, der deutsche Eric Clapton, 70 geworden. Seien wir ehrlich: Kann es tatsächlic­h nur eine Laune des Schicksals sein, dass im selben Jahr, in dem die FDJ im »Neuen Deutschlan­d« die gelungene Organisati­on von »mehr und niveauvoll­eren Tanzverans­taltungen« verkündete (»ND«, 22.10.1982, Seite 5: »In der Interessen­skala Jugendlich­er steht das Bedürfnis nach Geselligke­it, nach Musikhören und Tanzen ganz oben«), in der Bundesrepu­blik Kings denkwürdig­e Erfolgspla­tte »Happy Guitar Dancing« (1982) erschien? Ich denke: nein. Thomas Blum, Jahrgang 1968, ist Redakteur im Feuilleton des »nd«.

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