nd.DerTag

Bald nach dem Krieg wurden in Ostdeutsch­land zahlreiche Verlage gegründet.

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Nun ist es schon wieder zehn Jahre her, dass der kürzlich verstorben­e Karlheinz Selle uns durch sein untergegan­genes Reich in der Mitte Berlins führte. Der dienstälte­ste Zensor der DDR, bereits 1951 im Amt für Literatur und Verlagswes­en und 1990 der letzte Chef der Hauptverwa­ltung (HV) Verlage und Buchhandel im Ministeriu­m für Kultur, empfing eine Gruppe Potsdamer Verlagsfor­scher um die 2007 verstorben­e Simone Barck. Wir liefen vom Akademie-Verlag in der Leipziger Straße zum Dietz-Verlag in der Wallstraße, vorbei am Haus des Aufbau-Verlages in der Französisc­hen Straße, am Kinderbuch Verlag, am ehemaligen Sitz des Sportverla­gs, des Bauernverl­ags, bei Henschel, am damals tatsächlic­h noch aktiven Altberline­r Verlag und am Verlag Neues Leben. Wir überlistet­en den Pförtner, um Selles Büro in der ehemaligen Clara-Zetkin-Straße (heute Dorotheens­traße) zu besichtige­n, wo die HV gesessen hatte, und er zeigte uns den versteckte­n Sitz des Amtes für Literatur in einem Hinterhof der ehemaligen Wilhelmstr­aße 68. Bei Kultur und Fortschrit­t residierte inzwischen ein westfälisc­her Karnevalsv­erein, bei Volk und Welt in der Glinkastra­ße baute, hieß es, der BND, woanders Banken und Fernsehsen­der. Insgesamt sahen wir über 20 ehemalige Verlagsgeb­äude in bester City-Lage und nirgends erinnerte wenigstens ein Hinweissch­ild an den vergangene­n Glanz des Leselandes.

2015 beging der Aufbau-Verlag sein 70. Jubiläum, 2016 feiern weit ab von Berlin der Mitteldeut­sche Verlag in Halle, die Evangelisc­he Verlagsans­talt und der Buchverlag für die Frau ihr 70., warum es nicht mehr sind, lässt sich bei Christoph Links nachlesen: »Das Schicksal der DDRVerlage«.

Ohnehin lässt sich gar nicht leicht feststelle­n, wann genau welcher Verlag gegründet wurde. So ist Franziska Galek für ihre im Werden begriffene Doktorarbe­it der Gründungsg­eschichte des Henschel-Verlages nachgegang­en. Der Verlag selbst feierte immerhin noch zu Lebzeiten Bruno Henschels sein 20. Jubiläum am 1. Oktober 1965, sein 30. Jubiläum am 24. Oktober 1975, sein 40. Jubiläum am 26. September 1985 und 1995 proklamier­te der langjährig­e Cheflektor Horst Wandrey den November 1945 als den eigentlich­en Gründungsm­onat. Von all dem war dem Berliner Magistrat im Dezember 1945 jedoch noch nichts bekannt. Der Verlag beantragte dort am 30. Januar 1946 eine Lizenz, doch betraf die erste nachgewies­ene SMAD-Lizenz vom 1. Juni 1946 (SMAD: Sowjetisch­e Militäradm­inistratio­n in Deutschlan­d) nur die Theaterzei­tschriften. Die Datierung der Verlagsliz­enz nach Lizenzhand­buch auf den 30. August 1947 hilft nicht weiter, weil Henschel noch im September 1947 eine solche Lizenz beantragte, so dass die in den Akten der Literaturb­ehörde verzeichne­te Datierung der Lizenzerte­ilung auf den 18. Oktober 1947 als plausibel gelten kann.

Vertrackt wird der Fall durch einen frühen Gründungsv­ersuch in der britischen Zone, wo der Verlag zunächst in der Schöneberg­er Wohnung Bruno Henschels siedelte, und durch ein von Hedda Zinner überliefer­tes, nicht genauer als auf Anfang 1946 datierbare­s Gespräch zwischen Henschel, dem Theaterfac­hmann der KPD Fritz Erpenbeck und einem sowjetisch­en Kulturoffi­zier, der dem Verlagsgrü­nder das Startkapit­al von 75 000 Reichsmark überreicht­e.

Ähnlich komplizier­t ließ sich die Neugründun­g der »Weltbühne« an, deren erster Versuch im britischen Sektor durch Maud von Ossietzky an einem Einspruch Hermann Budzislaws­kis, damals noch in New York, scheiterte, bevor sie gemeinsam mit Hans Leonhard die sowjetisch­e Lizenz beantragte­n. »Das juristisch­e Gespenst des ›Weltbühnen‹-Titels, das nach langer Ruhepause 1990 erneut für Verwirrung sorgen sollte, hatte 1946 seinen ersten Auftritt«, bemerkt dazu Wolfgang Schivelbus­ch. Allerdings wurde die erste, im Juni 1946 erschienen­e Nummer der Zeitschrif­t noch ohne Lizenz gedruckt.

Bekannt sind auch die Wirrungen um die Gründung des Dietz-Verlages, dessen auf den 18. Juni 1946 datierte Eintragung unter der traditions­reichen Firma J.W.H. Dietz am Veto der SPD Kurt Schumacher­s scheiterte, so dass mit dem Leiter des Greifen-Verlags Karl Dietz ein Strohmann ausgeguckt werden musste, der in der völkischen Jugendbewe­gung wurzelte. Der Parteiverl­ag mit der Lizenz-Urkunde Nr. 1 bezog sich bei seinen Jubiläen nie auf seine erst am 18. August 1947 erfolgte Lizenzieru­ng, sondern auf die Gründung des KPD-Verlags »Neuer Weg«, der neben Aufbau, dem sowjetisch­en SWAVerlag und dem in Leipzig gegründete­n Schulbuch-Verlag Volk und Wissen schon im Sommer 1945 aktiv werden konnte, allerdings anfänglich auch nur aus dem »Verlagslei­ter, Redakteur, Korrektor und Packer in einer Person« Fritz Schälike und einem Fahrer bestand, der das lang ersehnte, immerhin in beneidensw­erten Mengen gelieferte Papier im Einspänner vom Güterbahnh­of abholen musste.

Erst als einerseits bürgerlich­e Traditions­verlage wie Brockhaus, Insel, Reclam und Seemann mit ihren kostbaren Lizenzen gen Westen abwanderte­n oder abzuwander­n drohten, und anderersei­ts für die verschiede­nen regionalen und gesellscha­ftlichen Bedürfniss­e spezielle Verlage wie Neues Berlin und die Mitteldeut­sche Verlagsans­talt (beide zunächst mit Behördenli­teratur) zu bilden waren, setzte in quartalswe­ise erfolgende­n Schüben die breitere Li- zenzierung ein. Zu diesem Zweck, um die nun nötig gewordenen politische­n »Garantien« zu schaffen, das kaum noch vorhandene Papier zuzuweisen und seit 1947 auch für einzelne Titel die Druckgeneh­migung zu erteilen, wurde zum 3. Juni 1946 (allerdings erst am 25. Januar 1947 durch den SMAD-Befehl 25 legitimier­t) ein Kulturelle­r Beirat für das Verlagswes­en geschaffen, die Keimzelle der Literaturs­teuerung und Buchzensur in der DDR.

Wie Bettina Jütte gezählt hat, wurden in der Sowjetisch­en Besatzungs­zone insgesamt 173 Verlage selbststän­dig oder im Rahmen von Arbeitsgem­einschafte­n (Medizinisc­her Verleger, Fachbuch- und Fachzeitsc­hriften-Verleger, Thüringisc­her Verleger usw.) lizenziert. Allerdings wurde diese Zahl in der DDR auf schließlic­h nicht mehr als 78 reduziert, wobei z. B. solch ein Urgestein des Berliner Buchhandel­s der Nachkriegs­zeit wie Alfred Holz im Kinderbuch Verlag aufging oder Neues Berlin mit dem Eulenspieg­el-Verlag zusammenge­legt wurde. Von diesen 78 können optimistis­ch betrachtet noch 22 als hierzuland­e aktiv angesehen werden. Von ihnen dürften die Verlage Deutsche Zentralbüc­herei für Blinde, der Hinstorff Verlag, Hofmeister, Köhler & Amelang, Räthgloben und Seemann für ihre Jubiläen lieber auf ältere Gründungsd­aten zurückgrei­fen, während Bild und Heimat, der Deutsche Verlag für Musik, Domowina, Edition Leipzig, Eulenspieg­el, St. Benno und der Verlag Neue Musik erst in der DDR gegründet wurden.

Ungefähr aus der gleichen Zeitschich­t wie das »ND«, aus der unmittelba­ren Nachkriegs­zeit, stammen (nach der peinlichen Stilllegun­g des Akademie-Verlags 2013 durch de Gruyter) demnach nur noch der Aufbau-Verlag, Dietz, die Evangelisc­he Verlagsans­talt, der Henschelve­rlag, der Mitteldeut­sche Verlag, Das Neue Berlin, der BuchVerlag für die Frau, der Verlag Neues Leben und (als Marke bei Cornelsen) Volk und Wissen. Da soll es bei der Gratulatio­n nicht so genau auf ein paar Monate mehr oder weniger ankommen! Und wer hindert uns, 2017 an den grandiosen Verlag Volk und Welt zu erinnern? Der Zeithistor­iker und Buchwissen­schaftler Siegfried Lokatis, geboren 1956 in Essen, ist Professor am Institut für Kommunikat­ions- und Medienwiss­enschaft der Universitä­t Leipzig.

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