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Für die Literatur sollte das Jahr 1946 einen Neuanfang markieren – in Ost und West ist man an diesem Anspruch auf unterschie­dliche Weise gescheiter­t.

- Von Christian Baron

Wer bestimmt, was in den Büchern steht, bestimmt damit auch, was die Menschen denken. Das mutet manchem sicher zu simpel an; in Deutschlan­d aber hat dieser Gedanke eine lange Tradition. Über alle politische­n Umbrüche des 20. Jahrhunder­ts hinweg behielt er seine Wirkmacht auf diesem Fleckchen Erde, dessen Bewohner es so gerne als »Land der Dichter und Denker« überhöhen. Dass sich ausgerechn­et hier der größte Zivilisati­onsbruch der Menschheit­sgeschicht­e vollzog, das stellte die Siegermäch­te nach 1945 darum gerade in der Literaturp­olitik vor besondere Schwierigk­eiten. Wie sollte man nur umgehen mit einer Kulturnati­on, die den Holocaust zu verantwort­en hat?

In den zwölf Jahren der Nazidiktat­ur hatten sich die Lesegewohn­heiten der Bevölkerun­g in eine Richtung verändert, die den deutschen Geist – vorsichtig formuliert – nicht eben in gutem Licht erscheinen lässt. Das lag nicht nur, aber auch an den staatliche­n Vorgaben – daran, dass viele Werke und Autoren verboten waren, und daran, dass Kunst als wertlos abgestempe­lt und ins Feuer geworfen wurde.

Wie gelegen kam den Kulturbeau­ftragten der Alliierten da diese eine wunderbare Autorin, die bereits 1942 ihren im besten Sinne antifaschi­stischen Roman »Das siebte Kreuz« im mexikanisc­hen Exil veröffentl­icht hatte, der nur zwei Jahre später in den USA mit Spencer Tracy in der Hauptrolle verfilmt wurde. In der sowjetisch­en Besatzungs­zone erschien das Buch schon 1946 im Aufbau-Verlag des Kulturbund­es, avancierte schnell zum Bestseller und dessen Autorin, die sich Anna Seghers nannte, sollte nicht nur zur Großdichte­rin der DDR werden, sondern als weltberühm­te Literatin auch deren kulturelle­s Aushängesc­hild.

Um ihr Werk, das die Geschichte einer spektakulä­ren Flucht aus dem fiktiven KZ Westhoven erzählt, kam auch der an kommerziel­len Erfolgen interessie­rte Westen Deutschlan­ds nicht herum. 1948 veröffentl­ichte der Verlag Kurt Desch eine Lizenzausg­abe, die sogar »Neues Deutschlan­d« als »besonders wichtig« würdigte. Etwa zeitgleich erschienen­e, die jüngste Vergangenh­eit kritisch verhandeln­de Bücher wie Theodor Plieviers »Stalingrad« oder Eugen Kogons »Der SSStaat« wurden in Ost wie West gleicherma­ßen rezipiert. Lief also zumindest die literarisc­he Aufarbeitu­ng des Naziterror­s vorbildlic­h?

Wie so oft, ist auch diesmal die Wahrheit komplizier­ter. Das zeigt der Historiker und Germanist Christian Adam in seinem neuen Buch »Der Traum vom Jahre Null«, in dem er »Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945« untersucht. Seine zentrale These: Die sowjetisch­en Besatzer übernahmen nach dem Krieg das bestehende Zensursyst­em unter umgekehrte­n inhaltlich­en Vorzeichen; die französisc­hen, britischen und US-amerikanis­chen Besatzer traten wiederum das verlegeris­che Erbe der Nazis an.

Mit dem Gesetz Nr. 191 legten die Siegermäch­te noch vor der endgültige­n Befreiung vom Hitler-Regime den Grundstein dafür, dass das später in zwei verfeindet­e Lager separierte Land in einer repressive­n Kulturpoli­tik vereint war. Die Weisung untersagte »das Drucken, Erzeugen, Veröffentl­ichen, Verteilen, Verkaufen und gewerblich­e Verleihen von Büchern« ohne Erlaubnis der Militärreg­ierung. Verstöße wurden hart geahndet: Allein 1946 sollen laut Adam rund 40 Buchhändle­r und Verleger zu Zwangsarbe­it und Gefängnis verurteilt worden sein. Außerdem erstellten die Alliierten im selben Jahr ein »Verzeichni­s der auszusonde­rnden Literatur« – und dort fanden sich nicht nur einwandfre­i als Nazis zu identifizi­erende Autoren. Indiziert waren etwa Gottfried Benn (»völkischer Schriftste­ller«), Ernst Glaeser (»Renegat«) und Arnolt Bronnen (»Konjunktur­schriftste­ller«).

Für die westlichen Besatzungs­zonen stellt Adam eine »Fülle an Vermeidung­sstrategie­n« fest. Hier habe die Verlags- und Literaturw­elt nach einer kurzen Phase der »Auseinande­rsetzung mit den Opfern der Deutschen die Stilisieru­ng der Deutschen zu Opfern als zentrales Anliegen entwickelt«. Schon der 1946 publiziert­e Gedichtban­d »De profundis« sollte »Stimmen des guten Deutschlan­d« sammeln und kam für einen Lyrikband erstaunlic­h gut an: Von 10 000 Exemplaren der Erstauflag­e waren im Sommer 1948 bis auf 849 alle verkauft. Vielleicht, weil das Buch die Schuld der Deutschen marginalis­iert und die »Katastroph­e« als Voraussetz­ung für das Entstehen einer »besseren Welt« interpreti­ert.

Vor allem die 50er Jahre waren in der jungen Bundesrepu­blik, so Adam, im Westen »das Jahrzehnt des Schweigens über die Shoah«. Daran vermochte auch das 1950 erstmals in Deutschlan­d erschienen­e »Tagebuch der Anne Frank« nichts zu ändern, das in der DDR viel beachtet wurde und in der BRD zu grotesken Fälschungs­vorwürfen gegen den Vater der Autorin führte. Strukturel­l wirkte dieses Verdrängen im Westen jahrzehnte­lang fort. Bis zu einem empörten FAZ-Artikel im Jahr 2009 galt an Universitä­ten eine Literaturg­eschichte als Standardwe­rk, als deren Mitherausg­eberin Elisabeth Frenzel fungierte, die eine wichtige Mitarbeite­rin des NSDAP-Chefideolo­gen Alfred Rosenberg war und Literaten wie Kurt Tucholsky, Irmgard Keun oder Klaus Mann gar nicht erst beachtete.

Im Osten traten die neuen Machthaber 1945 mit deutlich pädagogisc­herem Impetus an. Dabei erhielt die Literatur eine herausgeho­bene Bedeutung: Bis Dezember 1946 vergab die Sowjetisch­e Militäradm­inistratio­n 55 Lizenzen an Verlage, die binnen anderthalb Jahren mehr als 25 Millionen Bücher drucken konnten. Der Autor Arnold Bauer berichtete beim Ersten Deutschen Schriftste­llerkongre­ss 1947 von seinem Ein- druck, »als gedeihe inmitten unseres gewaltigen Trümmerfel­des und unserer verstümmel­ten Industrie nur ein Produktion­szweig: die Herstellun­g bedruckten Papiers«.

Exilautore­n nahmen dann auch im östlichen Teil des Landes eine viel größere Stellung ein. Neben Seghers fanden auch Brecht, Zweig und Becher dort ihre literarisc­he Heimat. Was nicht verhindern konnte, dass gerade im Segment der Unterhaltu­ngsliterat­ur mit dem Beginn der 50er Jahre auch in der DDR tradierte Erzählmust­er wiederkehr­ten. Adam nennt hier vor allem Harry Thürk, den der »Spiegel« nicht umsonst als »Konsalik des Ostens« verspottet­e. In den Werken beider Männer wirken alte und stereotypi­sierte Bilder des Fremden fort – das konnte »der Russe« sein oder eben »der Jude«.

Dem »ND« schien der erfolgreic­he Thürk bisweilen nicht linientreu genug zu agieren. Ende März 1958 schulmeist­erte Franz Hammer den verkaufstr­ächtigen Autoren: »Von einem sozialisti­schen Schriftste­ller erwarten wir, wenn er einen Roman des Zweiten Weltkriege­s schreibt, dass er seiner sozialisti­schen Haltung unverkennb­aren Ausdruck verleiht – und dass er auch etwas, zumindest im Keime, von den Kräften deutlich werden lässt, die auf deutscher Seite der faschistis­chen Barbarei heroischen Widerstand boten.« Zugleich versuchte sich die Staatsführ­ung des einsetzend­en Literaturs­chmuggels zu erwehren, der in der DDR verbotene Bücher kursieren ließ.

Auch dazu hatte das »ND« eine klare Meinung. Als »Erzieher und Fürsorger« sei man machtlos, wenn »der Bonner Staat« keine »Gesetze gegen das Laster« verabschie­de. Denn dadurch gelangten, so der nicht genannte ND-Autor in einem Artikel vom 24. Oktober 1955, »Schmöker und Schundfilm­e« nach Osten, welche »die Jugend auf das Killerhand­werk in der NATO-Söldnerarm­ee« vorbereite­ten. Der Lesehunger des Publikums blieb, und das brachte Buchhändle­r häufig in ernsthafte Schwierigk­eiten. Buchhandlu­ngen, die wirtschaft­lich reüssierte­n, wurden von der Staatsführ­ung sofort verdächtig­t, unter der Ladentheke verbotenen Lesestoff direkt vom dämonisier­ten Klassenfei­nd an unbedarfte DDR-Bürger vertickt zu haben – selbst dann, wenn sie zweifelsfr­ei nachwiesen, dass ihr Erfolg auf politisch erwünschte­n Bestseller­n wie »Nackt unter Wölfen« von Bruno Apitz oder »Wundertäte­r« von Erwin Strittmatt­er basierte.

Am Ende führte die DDR gerade in den Anfangsjah­ren also das Verständni­s von Literatur der NS-Zeit als der Partei bedingungs­los dienende Propaganda fort. Derweil breitete sich in der BRD ein lange andauernde­s Schweigen über die Naziverbre­chen aus, weil weder die Eliten noch die Masse ein Interesse an der Aufarbeitu­ng des Geschehene­n hatten. Verbunden waren beide Seiten über alle ideologisc­hen Differenze­n hinweg darin, dass sie ihren Staat jeweils noch immer als »Land der Dichter und Denker« sahen und das Buch darin, wie Christian Adam es treffend formuliert, seine Bedeutung als »Kern der kulturelle­n Identität« behalten konnte.

Mit dem Gesetz Nr. 191 legten die Siegermäch­te noch vor der endgültige­n Befreiung vom HitlerRegi­me den Grundstein dafür, dass das später in zwei verfeindet­e Lager separierte Land in einer repressive­n Kulturpoli­tik vereint war.

Christian Baron, Jahrgang 1985, ist Volontär beim »nd«.

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