Mein Heranwachsen im Kulturbiotop Dresden – das Jahr 1946.
Dresden 1946. Das erste Jahr nach der Verwandlung einer Vorzeigestadt von Kultur und Kunst in eine Trümmerwüste. Ich habe es intensiv als gerade mal im Mai Fünfzehnjähriger erlebt. Wie nach so viel Todbringendem neues Leben erwacht und die schöpferische Potenz der Kunst über die Macht der Zerstörung obsiegt.
Die vor sich hin stinkenden Ruinen der einstigen Pracht als Kulisse durchquerend, durfte ich das tief Menschliche künstlerischen Wirkens entdecken. Ich sah Wilhelm Rudolph mit seinem großen Zeichenblock über Stock und Stein stolpern, wildbewegt gemordete Wohngehäuse zu porträtieren. Josef Hegenbarths furiose Skizzen von den endlos auf die Tram oder in der Schlange nach Gemüse Wartenden wurden mir vertraut. Zweimal »Interimstheater Dresdner Bühnen«: Erich Ponto erlebte ich an der Seite von Manja Behrens und Antonia Dietrich als »Nathan der Weise« im Kirchgemeindesaal Strehlen. Elisabeth Reichelt sang Verdis Violetta im »Kurhaus Bühlau« so schmerzerfüllt, dass sich meiner Mutter endlich die Tränen über den 45er Tod ihrer Mutter und meiner Schwester lösten. Eine Erlösung.
Ich begriff zunächst nicht alle Zusammenhänge.
Heute weiß ich: Die Stadt erwachte nur mühselig. Wirtschaft und Industrie lagen völlig am Boden. Kunst und Kultur jedoch kamen ganz schnell zur Blüte. Die Besatzungsmacht suchte Leute aus dem Widerstand, und fand sie fast nur in der KPD. Sie gab den Trend vor. So durfte der Kommunist Karl von Appen als Bühnenbildner und Generalintendant mit dem aus dem okkupierten Prag her schwer belasteten Weltklasse-Dirigenten Josef Keilberth große Kunst machen. Man ging sofort daran, als allererstes Gebäude das Schauspielhaus aufzubauen, und auch für Oper und Konzert zu öffnen.
Soviel Power für Kunst auf kaputt gebombten Areal gab es nirgends.
Hamburg und Köln, Würzburg und Hildesheim, ja, alle waren nach den verheerenden Bombardements der letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges nicht mehr wiederzuerkennen. Doch Dresden bleibt einzigartig. Gewiss: Dresden wird wie Weimar als Nazinest denunziert. Leute aus den lautstark tönenden Geburtsstätten der Nazi-Ideologie München und Nürnberg fällen gern dieses Urteil. Ja, Dresden hatte bereits 1933 die HetzAusstellung »Entartete Kunst«. Aber Dresden hat hart dafür gebüßt. Dresden hat Zeichen gesetzt. Die widerliche braune Soße der Nazis hatte die eigentliche kulturelle Substanz dieser Stadt nicht dauerhaft beschmutzen können. Selbst der wohlgezielte Bombenteppich hatte sie nicht unter sich begraben. War hier doch im gegenseitigen Einverständnis der sich Bekriegenden ein Exempel statuiert worden! Eine Luftverteidigung hatte es nicht gegeben. Militärische Ziele der Stadt wie sämtliche Kasernen und Reichsmarschall Görings »Luftgaukommando« waren völlig unversehrt und die Prachtvilla Gauleiter Mutschmanns heil geblieben. Alles Zivile dagegen war kaputt. Drastischer konnte ein Heranwachsender wie ich nicht den grotesken Widersinn von Kriegsführung erleben.
Ende August 1946 kommt der Paukenschlag: Das mit dem weihnachtlichen Striezelmarkt 1945 den Dresdnern als »Stadthalle am Nordplatz« geöffnete ehemalige Heeresmuseum darf Kunstort werden. Die »Allgemeine Deutsche Kunstausstellung« wird dort mit 600 Werken von 250 Ausstellenden aus ganz Deutschland eröffnet. Die Dresdner Künstler waren ausgeschwärmt und hatten überall die vom Ungeist der NS-Zeit unberührt gebliebene Kunst aufgespürt. Der Bildhauer Herbert Volwahsen sorgt für eine exemplarische Hängung. Lachnits Plakat und Auftaktbild stimmten mit den mir schon vertrauten Rudolph und Hegenbarth und vielen anderen ein in ein gesamtdeutsches Konzept. Erstmalig sah ich Werke von Karl Schmidt-Rottluff aus Chemnitz, Max Schwimmer aus Leipzig und Karl Hofer aus Berlin sowie Willi Baumeister aus Stuttgart, Xaver Fuhr aus München und Fritz Winter vom Ammersee. Da sich Winter selbst noch in Kriegsgefangenschaft befand, hatte sein Freund Will Grohmann, gemeinsam mit Hans Grundig Strippenzieher dieser Ausstellung, seine bislang verfemten abstrakten Bilder aus Bayern geholt.
Ich nahm durchaus die Kuriosität der Situation wahr: Grohmann, ExLebensgefährte Gret Paluccas und nachmaliger Westberliner Kunstpapst von CIA-Gnaden, hatte 1946 seinen Dienstsitz in der sächsischen Landesregierung. Diese residierte im oben erwähnten Komplex der nazistischen Luftkriegsführung. Nunmehr demokratisch zivilisiert. Ein Triumph: Dresdner Bürger durften nun hoch zu den einst gefürchteten Reiter-Kasernen pilgern und dort in der Stadthalle Kunst genießen. Im Januar 1948 etwa die riesige Übersicht »150 Jahre soziale Strömungen in der bildenden Kunst«, die mir die Augen öffnete für Kollwitz und Beckmann, Dix und Grosz, Daumier und Masereel. 1967 war ich am selben Ort Jurymitglied für die bereits Sechste in der Nachfolge der »Ersten«.
Mit offenen Augen und Ohren durchstreifte ich die Trümmerlandschaft. Dabei nahm ich vieles zur Kenntnis, was mir unvergesslich blieb. Herbert Collum musizierte in einer halben Ruine am Altmarkt Bachs Brandenburgische Konzerte, und Musikkritiker Ernst Krause wertete das in geschliffener Prosa – erst im liberalen »Sächsischen Tageblatt«, dann in der sozialistischen »Sächsischen Zeitung«. Jüdische Mitbürger Victor Klemperers kamen aus dem britischen Exil: Hans Schrecker gründete Sachsenverlag und die Illustrierte »Zeit im Bild«. Paul Lewitt rief mit Charlotte Küter die »Volksbühne« als Konkurrenz zum Staatstheater ins Leben, und faszinierte mich. Max Zimmering und Auguste Lazar brachten die literarische Flanke aus London mit.
Wolfgang Balzer hielt Vorträge in seinen exzellenten Schauen im Kupferstichkabinett und ließ durchblicken, er arbeite an einem Standardwerk über den jungen Daumier. Da war einer schneller, als 1947 im neugegründeten Sachsenverlag bereits eine in der Illegalität vom Elektromonteur Gerhart Ziller kundig verfasste Monografie über den genialen französischen Karikaturisten erschien. Der Genosse Ziller, bereits hochrangiger Wirtschaftsfunktionär, gab mir ein Beispiel für die vielseitige Bildung manches Vertreters der Kaderreserve der Widerstandskämpfer der KPD.
Das liest sich bei dem Forschungsbericht des Hannah-Arendt-Instituts Dresden zu »Dresden 1945-1948 / Politik und Gesellschaft unter sowjetischer Besatzungsherrschaft« leider ganz anders. Da ist nur von machtbesessenen Klassenkämpfern wie Hermann Matern und Kurt Fischer die Rede, welche jegliche gutbürgerliche Regung niederzumachen pflegten. Gerhart Ziller und Fritz Selbmann, so intelligent wie kultiviert, wirkten dagegen 1946 im Dresdner Establishment als moderate Vermittler. Dresden wirkte weiter: Wie der Liberaldemokrat Johannes Dieckmann kamen sie zur Gründung der DDR nach Berlin, und machten dort in hohen Positionen dem diktatorischen Anspruch Walter Ulbrichts schwer zu schaffen. Ziller bezahlte das mit seinem Leben, er beging Suizid.
Das kulturelle Flair dieser Stadt hat meine Jugendjahre geprägt. Kurt Liebmann und Karl Kneschke entfalteten im Kulturbundhaus in der Goetheallee eine rege Tätigkeit. Die in der erhaltenen Mutschmannvilla etablierte FDJ-Stadtleitung spendierte mir schon für 1 RM eine Theaterkarte, als ich bei ihnen noch gar nicht Mitglied war. Wieder ein geheimer Triumph. Gelebter Antifaschismus wurden dann meine ersten Ausflüge ins Publizieren. Ich porträtierte politische und kulturelle Prominenz, indem ich mich an höchsten Vorbildern orientierte: Die »Tägliche Rundschau« hatte auf der Titelseite die Karikaturen vom Nürnberger Prozess der Moskauer Kukryniksy. Der Londoner David Low war der Gegenpart. Wo sah ich ihn 1946 gedruckt? In der unvergesslichen »Neuen Auslese« und in der »New York Times«. Beides für redliche RM beim Kiosk am Dresdner Fucikplatz erworben ...
Was hat das alles mit dieser Zeitung zu tun?
Heute schaue ich im Archiv auf die große dünne Zeitung, die ich damals gar nicht wahrnahm: »Neues Deutschland«. Seit Mitte August 1946 ist der Sohn eines Kunsthändlers und versierte Chefredakteur der bedeutendsten deutschen Exilzeitung, Lex Ende, hier der Chef. Am 27.8. wird auf Seite 3 über die Eröffnung der »Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung« durch Sachsens Regierungschef Rudolf Friedrichs berichtet. Die vier Teile von Otto Dix »Der Krieg« werden ins Zentrum gerückt. Am 9.11. wird für 74 000 Besucher dieses Schlussurteil über die Schau gefällt: »Sie hat dazu geführt, daß die geistig und künstlerisch interessierte Welt aus der Lethargie aufgerüttelt und gezwungen wurde, sich mit den Werken der bildenden Künste ... auseinanderzusetzen und so oder so Stellung dazu zu nehmen.«
Soviel Power für Kunst auf kaputt gebombten Areal gab es nirgends. Hamburg und Köln, Würzburg und Hildesheim, ja, alle waren nach den verheerenden Bombardements der letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges nicht mehr wiederzuerkennen. Doch Dresden bleibt einzigartig.
Harald Kretzschmar, Jahrgang 1931, ist Karikaturist und Autor für »nd«.