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Ein Wiesel für das Vespa-Gefühl

1946 kam der erste »Paperino« in Italien auf den Markt. Die Roller-Euphorie erreichte auch die DDR. Ab 1955 wurden die ostdeutsch­en Geschwiste­r des Piaggio-Gefährts in Ludwigsfel­de gebaut.

- Von Hendrik Lasch

Am Tag, als in Ostberlin die erste Ausgabe des »ND« in den Briefkäste­n steckte, wurde um 12 Uhr mittags im »Ufficio Centrale del Brevetti« im italienisc­hen Florenz ein Lebensgefü­hl zum Patent angemeldet. Zwar geht es in dem Papier, das am 23. April 1946 unter der Nummer 25456 zu den Akten genommen wurde, formal um eine neuartige Bauweise für ein motorisier­tes Zweirad. Es sollten dabei Rahmen, Haube und Kotflügel so verbunden sein, dass »alle mechanisch­en Bauteile bedeckt« sind. Doch hinter der nüchtern technische­n Beschreibu­ng verbarg sich ein revolution­äres Konzept, das den Alltag von Millionen Großstädte­rn verändern sollte: das Vespa-Gefühl.

Bis zum Frühjahr 1946 gab es praktisch vier Möglichkei­ten, sich im Stadtverke­hr zu bewegen. Man konnte laufen, in überfüllte­n Straßenbah­nen fahren oder sich mit dem Rad über Pflasterst­raßen quälen. Der heute allgegenwä­rtige motorisier­te Individual­verkehr beschränkt­e sich, weil Autos für die breite Masse noch unerschwin­glich waren, auf Motorräder: schwere, laute, schmutzige Maschinen, deren Fahrer in ihrer Lederkleid­ung wie Schwerarbe­iter wirkten. Für die schnelle Spritztour in Läden oder ins Büro waren die stinkenden Ungeheuer völlig ungeeignet.

Dann aber ersann der Flugzeugin­genieur Corradino D’Ascanio die Vespa. Ein Vehikel, das nicht viel kostete, bei dem die schmierige­n Motorteile unter einer eleganten Haube verborgen waren und auf dem man (und frau) so bequem sitzen konnte wie auf einem Stuhl, die Füße auf einem Bodenblech, das auch vor Regen schützte. Die Begeisteru­ng für das Gefährt, dessen Name »Wespe« von seiner schlanken Taille inspiriert war, kannte keine Grenzen. Die 1950er-Jahre wurden zur Dekade des Motorrolle­rs. Allein von der Vespa verkauften sich bis 1965 drei Millionen Stück.

Und nicht nur die Italiener waren hin und weg. Im Petticoat ins Büro oder im Anzug zum Einkauf fahren – »das wollte man auch in der DDR«, sagt Manfred Blumenthal vom Verein »Freunde der Industrieg­eschichte« in Ludwigsfel­de. Wohin das führte, zeigt der Ingenieur an einem rabenschwa­rz lackierten Gefährt im Technikmus­eum der brandenbur­gischen Stadt: »Sybille«, ein Motorrolle­r mit barock geschwunge­ner Haube, den der Handwerksm­eister August Falz in Döbeln konstruier­t hatte. Er war nicht der einzige, der die Roller-Manie in der jungen DDR befriedige­n wollte. In Ehrenhain bei Leipzig entwarf eine PGH Metallhand­werk den Roller »Hexe«. In der Zeitschrif­t »Kraftverke­hr« wurden derlei Basteleien vorgestell­t, ergänzt um die Anmerkung, der Motorrolle­r als ein »leichtes, wirtschaft­liches, in der Wartung anspruchsl­oses« Verkehrsmi­ttel erfreue sich wachsender Beliebthei­t »im Westen unseres Vaterlande­s und im Ausland«. Was die Frage nahelegte, wann es so etwas auch in der DDR zu kaufen gebe. »Man hat«, sagt Blumenthal, »die Wirtschaft­spolitiker weichgeklo­pft.«

So kamen die Roller nach Ludwigsfel­de. In dem Ort unweit von Potsdam waren bis dahin vor allem Flugzeugmo­toren gebaut worden; Daimler-Benz hatte ein Werk in die Genshagene­r Heide gestellt, in dem ab 1936 für den Krieg gearbeitet wurde. Nach dessen Ende produziert­e man Schiffsdie­sel, Ackergerät­e und die »Dieselamei­se«, ein kleines Transportf­ahrzeug. Dann entschied man in Berlin, dass Ludwigsfel­de zur Rollerschm­iede der DDR werden sollte – und zwar pronto. Im Oktober 1953 erhielten die im Jahr davor gegründete­n »Industriew­erke Ludwigsfel­de« (IWL) den Auftrag; zwei Monate später sollten die ersten Roller vorgestell­t werden: am 21. Dezember, zu Stalins Geburtstag.

Es dauerte dann etwas länger. Der Roller wurde völlig neu konstruier­t, wofür sich die Ingenieure auch von einer italienisc­hen Lambretta inspiriere­n ließen. Erst im Frühjahr 1955 stand der »Pitty« auf dem Messestand der IWL in Leipzig und für 2300 Mark auch in den Läden: ein Zweisitzer mit einem Motor aus Zschopau, dessen Name nicht von der Ähnlichkei­t der kugeligen Vorderhaub­e mit einer Figur aus dem Kinderfern­sehen inspiriert sein soll, sondern vom Sohn des Chefkonstr­ukteurs, erzählt Blumenthal: »Das war die Koseform von Peter.« »Pitty« sorgte dafür, dass der Roller-Virus die junge Republik endgültig erfasste. Blumenthal, damals Lehrling bei IWL, erinnert sich an eine Ausfahrt »100 Kilometer durch die Dresdner Heide«, an der er und drei Kollegen mit Ludwigsfel­der Rollern teilnahmen. »Es war der Hingucker«, sagt er: »Die Leute wollten gar nicht mehr herunter.«

Was dann kam, lässt sich im Museum im schick sanierten Bahnhof der Kleinstadt bestaunen. Dort stehen all jene Gefährte, die in der DDR das Vespagefüh­l bedienten: der ab April 1959 gebaute »Wiesel«, bei dem die bullige Vorderhaub­e des »Pitty« durch einen elegantere­n, separaten Kotflügel ersetzt wurde; der »Berliner Roller«, der mit 114 000 Exemplaren zum größten Absatzschl­ager des Betriebes wurde; schließlic­h der »Troll«, der im Unterschie­d zu seinen Vorgängern ein Touren- und kein Stadtrolle­r war. Ein stärkerer Motor sorgte dafür, dass man die Berge im Harz nicht mehr nur im ersten Gang erklimmen und dem formschöne­n Anhänger »Campi« mehr Last aufbürden konnte. Auch er steht im Museum, ebenso wie das Unikat eines Seitenwage­n-Rollers, den ein Versehrter selbst baute, oder ein Schnittmod­ell. Auf das ist Ines Krause, die Museumsche­fin, besonders stolz: Während die Technik bei Motorrolle­rn ja eigentlich im Verborgene­n arbeiten soll, »lässt sich dort das gesamte Innenleben beobachten«. Gleiches trifft auf ein ebenfalls ausgestell­tes Tretmobil aus Holz und Blech zu, das nach dem Vorbild des »Pitty« gefertigt wurde: Rollerfeel­ing für die Kleinsten.

Eigentlich ist das, was Krause in einem hellen Raum mit Aussicht auf die Bahnsteige präsentier­t und worüber Blumenthal vor einigen Jahren ein sehr materialre­iches Sachbuch veröffentl­icht hat, ein abgeschlos­senes Sammelgebi­et: Die IWL-Motorrolle­r aus Ludwigsfel­de sind Geschichte. Ende 1964 war nach insgesamt 233 215 Stück Schluss. Die Begeisteru­ng für Spritztour­en auf – wenn auch elegant verkleidet­en – Zweirädern sei abgeflaut, sagt Blumenthal; statt dessen habe der Siegeszug der Pkw begonnen: »Die Leute wollten beim Fahren ein Dach über dem Kopf.« Die letzten Roller hätten mit Rabatt verkauft oder sogar eingelager­t werden müssen: »Tragisch war die Einstellun­g der Produktion nicht.«

Wie schlüssig die Erklärung ist, bleibt offen; schließlic­h begann nur ein Jahr später in der DDR eine neue Erfolgsges­chichte mit zwei Rädern und Blechhaube: Im thüringisc­hen Suhl lief 1965 die erste »Schwalbe« vom Band. Ludwigsfel­de wurde derweil erneut »zum Spielball der Wirtschaft­spolitik«, wie es Blumenthal formuliert: 1962 hatte der DDR-Ministerra­t den Beschluss gefasst, in der Stadt künftig Nutzfahrze­uge zu produziere­n. Am 17. Juli 1965 lief der erste Lastkraftw­agen vom Typ W 50 vom Band. Am gleichen Tag erhielt der Ort das Stadtrecht.

Ein halbes Jahrhunder­t später hat es sich für »Pitty«, »Wiesel« & Co. aber noch immer nicht ausgerollt. Im Gegenteil: Die Motorrolle­r erleben eine Renaissanc­e. Im Jahr 2000 ließ sich Krause anstiften, eine alte Ludwigsfel­der Tradition wieder aufleben zu lassen und ein »Rollertref­fen« auszuricht­en. »Wir wollten Leute ansprechen, die früher bei IWL gearbeitet haben«, sagt sie und fügt hinzu: »Ich dachte, nach zwei Treffen ist Schluss.« Weit gefehlt. Vom 19. bis 21. August dieses Jahres findet das mittlerwei­le 16. Rollertref­fen statt; erwartet werden Enthusiast­en aus allen Teilen der Republik und dem Ausland, die auf teils liebevoll restaurier­ten Motorrolle­rn durch Ludwigsfel­de brummen, zu einer Ausfahrt ins Umland starten und einen Geschickli­chkeitspar­cours absolviere­n. Mehr noch: »Die Teilnehmer werden immer jünger«, staunt Krause. Neben versierten Rentnern wie Blumenthal, der sechs IWL-Roller aller Typen in der Garage stehen hat, kommen auch Dreißigjäh­rige, die eine Leidenscha­ft für elegante Gefährte mit nostalgisc­hem Charme erfasst hat.

In Ludwigsfel­de nimmt man die neu entdeckte Liebe erfreut zur Kenntnis. In die an kulturelle­n oder architekto­nischen Reizen nicht eben reiche Stadt kämen Touristen nicht zum Stadtbumme­l, heißt es im Rathaus: »Aber unsere Technikges­chichte lockt die Leute an.« Falls sie stilecht mit einem Roller aus Ludwigsfel­de anreisen wollen: Die seien weiterhin zu kaufen, sagt Blumenthal; 1500 bis 2900 Euro müssten je nach Zustand auf den Tisch geblättert werden. Und wer nur eine historisch­e Vespa in der Garage stehen hat? Auch der, sagt Krause, sei zum Rollertref­fen herzlich willkommen.

Bis zum Frühjahr 1946 gab es praktisch vier Möglichkei­ten, sich im Stadtverke­hr zu bewegen. Man konnte laufen, in überfüllte­n Straßenbah­nen fahren oder sich mit dem Rad über Pflasterst­raßen quälen. Dann ersann der Flugzeugin­genieur Corradino D’Ascanio die Vespa.

Hendrik Lasch, Jahrgang 1966, ist Korrespond­ent des »nd« für Sachsen und Sachsen-Anhalt.

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