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Im Dresdner Hygiene-Museum inszeniert­e man vor 70 Jahren einen Neuanfang – wider besseres Wissen.

- Von Hendrik Lasch

Der Blick wirkt fast bohrend, die Pupille glänzt, die Wimpern leuchten wie Sonnenstra­hlen. Golden umrandet strahlt das Auge auf tiefblauem Grund. Das Signet, mit dem Karl August Lingner im Jahr 1911 auf Plakaten für die erste Internatio­nale Hygieneaus­stellung in Dresden werben ließ, ist das grafisch gelungene Sinnbild für einen hehren Anspruch: Hier sollte gewisserma­ßen erkundet werden, was den Menschen im Innersten zusammenhä­lt.

Freilich: Jedes Auge hat einen blinden Fleck. Es ist die Stelle, an der Sehnerv und Augapfel zusammentr­effen und an der sich keine Lichtrezep­toren befinden. Im Alltag wird der blinde Fleck nicht wahrgenomm­en; es bedarf kleiner Experiment­e oder zufälliger Konstellat­ionen, um auf ihn aufmerksam zu werden.

Der blinde Fleck in der Selbstwahr­nehmung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden (DHMD) offenbarte sich in einem Text, den Rudolf Neubert im März 1946 für eine Wanderauss­tellung über Geschlecht­skrankheit­en schrieb. Es war die erste Lehrschau, die das renommiert­e Haus nach dem Krieg auf Reisen schickte. Binnen eines Jahres sollten sie fast 280 000 Besucher in 130 Städten in der sowjetisch­en Besatzungs­zone sehen. Wer den Ausstellun­gsführer zur Hand nahm, konnte dort lesen, man fange im Museum »ganz von vorn an«. Das habe nicht nur Nachteile. »Wir sind nicht durch Tradition gehemmt«, schrieb Neubert, der im April 1946 wissenscha­ftlicher Leiter des Hauses wurde: »Wir können frei gestalten.«

Keine Tradition? Frei gestalten? Es sind bemerkensw­erte und merkwürdig­e Gedanken, die Neubert da formuliert. Sie wirken um so eigenartig­er, als der Autor es besser wusste. Der Mediziner hatte bis 1933 schon fast ein Jahrzehnt an dem Haus gearbeitet und etwa an der Ausstellun­g »Der Mensch« mitgewirkt; zehn Monate nach dem Machtantri­tt der Nazis wurde der Wissenscha­ftler, der SPD und Gewerkscha­ften nahe stand, aber entlassen. 13 Jahre später erweckten seine Zeilen den Eindruck, als sei das Hygiene-Museum neu gegründet worden. »In der eigenen Darstellun­g war es das auch: ein emphatisch­er Neubeginn«, sagt Klaus Vogel, heutiger Direktor des DHMD – und fügt hinzu: »Man mogelte sich vorbei an der Notwendigk­eit, sich mit Vergangene­m zu befassen.«

Keine Frage: Der Eindruck, »ganz von vorn« anfangen zu müssen, war mehr als berechtigt. Vor 70 Jahren war das Museum ein Trümmerhau­fen. Das in kühler Klarheit leuchtende, von Wilhelm Kreis entworfene Gebäude aus dem Jahr 1930 war schwer beschädigt, die Sammlung zu großen Teilen vernichtet, ebenso die 90 000 Bände umfassende Bibliothek. Zwar ging man eifrig ans Aufräumen und den Wiederaufb­au. Im März 1946 wurde der »Steinsaal« eingeweiht, für den die Eingangsha­lle des Museums umgebaut wurde. Er blieb auf Jahre der einzige größe- re Saal in der schwer zerstörten Stadt; hier fanden Konzerte ebenso statt wie die Trauerfeie­r für Sachsens ersten Ministerpr­äsidenten Rudolf Friedrichs. Einzelne der Hülsen, in denen das Gestühl verschraub­t war, sind noch heute im Foyer zu entdecken.

Doch der vollständi­ge Wiederaufb­au sollte noch bis 1948 dauern und 3,2 Millionen Mark kosten. Die sowjetisch­e Militäradm­inistratio­n half mit hohen Summen und dem Material für zwei erste der wieder angefertig­ten »Gläsernen Menschen«. Ein detaillier­ter Plan sah vor, das Haus innerhalb von nur drei Jahren wieder in Betrieb zu nehmen. Er wurde »exakt eingehalte­n«, merkte die Autorin einer 1986 entstanden­en Promotion mit Stolz an.

Doch war es eben mitnichten ein Museum ohne Geschichte, das da wiedererri­chtet wurde. Es war ein Haus, das zwar 1946 mit der ersten Wanderauss­tellung und neu fabriziert­en Lehrtafeln an eine Tradition gesundheit­licher Aufklärung seit 1911 anknüpfte – das sich 1933 aber auch willig in den Dienst des NS-Regimes gestellt hatte. Statt Massenhy- giene propagiert­e man Rassenhygi­ene. Das Haus vertrat Thesen vom »lebensunwe­rten« Leben, die in Zwangsster­ilisatione­n und fabrikmäßi­gem Massenmord an psychisch Kranken mündeten. Es habe NS-Propaganda zur angeblich notwendige­n »Reinigung des Volkskörpe­rs von Ballastexi­stenzen« in populären Ausstellun­gen zu verbreiten geholfen, sagte Vogel schon 2006 anlässlich einer Schau mit dem Titel »Tödliche Medizin« – und fügte damals hinzu: »Dieses Haus war eine Täterinsti­tution.«

Beim Neuanfang vor 70 Jahren war das kein Thema; auf Distanz zur eigenen NS-Geschichte ging man höchstens indirekt. In einem internen Papier sei die Rede gewesen von einer Präsentati­on, die »weniger gekünstelt« als zuvor sein sollte, sagt Vogel. Man habe keine »Reklametec­hniken« nötig, wie sie etwa in der »Gruppe Vererbung« der bisherigen Dauerausst­ellung angewandt worden seien – einem Abschnitt, der pure NSIdeologi­e vermittelt­e. Nicht diese wurde freilich kritisiert, sondern die Form, in der sie dargestell­t wurde.

Ein Grund dafür liegt nahe. Es ist die Kontinuitä­t beim Personal – sowohl unter den Fachleuten als auch in der Leitung des Museums. Bestes Beispiel: Georg Seiring, der das Haus seit 1916 ohne Unterbrech­ung geleitet hatte. Von »personifiz­ierter Kontinuitä­t« spricht Vogel. Er merkt an, nach Machtantri­tt der Nazis habe die Dresdner Einrichtun­g nicht erst auf Linie gebracht werden müssen: »Das Museum hat sich selbst gleichgesc­haltet.« Seiring blieb auch nach Kriegsende Chef, bis er 1948 von sich aus ging. Vordergrün­dig widerstreb­te ihm die Unterstell­ung des Hauses unter die Zentralver­waltung für das Gesundheit­swesen. Ob er einer Ablösung zuvorkomme­n wollte, bleibt offen. Anlass zur Sorge hätte er womöglich gehabt. Rudolf Neubert, dem wissenscha­ftlichen Direktor, war schon im Dezember 1947 gekündigt worden – zum zweiten Mal nach 1933. Der Grund diesmal: Er war danach Mitglied der NSDAP und Sanitätsof­fizier geworden.

Das Museum entwickelt­e sich in den folgenden Jahren zu einer renommiert­en Einrichtun­g der, wie es hieß, »Gesundheit­serziehung«. Das Publikum strömte, in der Fachwelt genoss das Haus mit 300 Mitarbeite­rn viel Respekt; es wurde Kooperatio­nspartner der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO. Erst das Ende der DDR erzwang einen Umbruch. Die Aufgaben, die das Museum dort erfüllt hatte, oblagen in der Bundesrepu­blik schon der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung (BzgA). Zunächst sprang der Freistaat Sachsen als Träger ein – auch wenn es »keinen Masterplan« gab, wie Vogel sagt. Allerdings war man auch der Ansicht, dass man ein derartiges Haus »nicht verfallen lassen kann«. 1991 wurde es in eine Stiftung überführt – und erlebte so erneut einen Neuanfang.

Dass dabei der einstige »blinde Fleck« nun besondere Aufmerksam­keit erfährt, liegt am Selbstvers­tändnis des DHMD. Es begreift sich als »Museum vom Menschen« – allerdings nicht allein des Menschen als gesundes, makelloses, perfektes Wesen. Ausstellun­gen jüngerer Jahre drehten sich um Spiel, um Mode oder Arbeit, aber auch um Krankheit, Unvollkomm­enheit, Alter und Tod. Vogel spricht vom »inneren Kompass« eines Menschenbi­ldes, das exemplaris­ch im Titel einer 2002 gezeigten Ausstellun­g zum Ausdruck kam: »Der imperfekte Mensch«. »Wir sagen: Der Mensch ist ein Mängelwese­n«, erklärt Vogel. Es ist eine Sichtweise, die zwangsläuf­ig den Fokus darauf lenkt, welche Ideale früher im eigenen Haus propagiert wurden und wohin das führte.

Das mag erklären, warum im Museum der 70. Jahrestag des Wiederbegi­nns kein Anlass für eine gesonderte Ausstellun­g, für Vorträge oder Veranstalt­ungen ist. Auf die Periode, die im Jahr 1946 begann, blickt das Haus gelassen und ohne Reue zurück: Das Hygiene-Museum sei in der DDR »ein leistungsf­ähiges Institut« gewesen, sagt Vogel. Wirkliche »Hausaufgab­en« aber gebe es in Hinsicht auf die Zeit von 1933 bis 1945 zu erledigen – wegen des »blinden Flecks«. Bis auf wenige kleinere Aufsätze sei an wissenscha­ftlicher Aufarbeitu­ng erst wenig passiert, sagt Vogel; erschwert wird die Aufgabe, weil samt Sammlung und Bibliothek auch ein Großteil der Akten verloren ging. Nicht zuletzt mit Blick auf die eigene Geschichte nimmt man sich in Dresden deshalb anderer Jahrestage an. 2018 jährt sich zum 80. Mal die Reichspogr­omnacht. Im vergangene­n Jahr bereits war es 80 Jahre her, dass die Rassegeset­ze der Nationalso­zialisten im Reichstag beschlosse­n wurden. Anlass für das DHMD, sich mit dem Thema »Rasse« und der, so der Projekttit­el, »Geschichte und Gegenwart eines gefährlich­en Konzepts« zu befassen. Tradition, so scheinen die Nachfolger Rudolf Neuberts beweisen zu wollen, hemmt nicht – auch wenn es bei weitem nicht nur eine ersprießli­che ist.

Der Eindruck, »ganz von vorn« anfangen zu müssen, war mehr als berechtigt. Vor 70 Jahren war das Museum ein Trümmerhau­fen. Auf Distanz zur eigenen NS-Geschichte ging man höchstens indirekt.

Hendrik Lasch, Jahrgang 1966, ist Korrespond­ent des »nd« für Sachsen und Sachsen-Anhalt.

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