nd.DerTag

Thriller mit Schimmelpi­lzen

1946 begann in Deutschlan­d die Produktion von Antibiotik­a als Arzneimitt­el.

- Von Silvia Ottow

Bis heute ist das Zither-Solo aus dem Film »Der dritte Mann« ein musikalisc­her Klassiker, ein Ohrwurm. Millionen Singles wurden davon gepresst, die Melodie belegte wochenlang Spitzenpos­itionen in der US-Hitparade und wurde zum meistverka­uften Instrument­alstück überhaupt. 1963 gab es bereits 40 Millionen Tonträger des Titels, bis in die Gegenwart hinein entstehen neue Coverversi­onen. Auch heute dürften zahlreiche Menschen mit der Melodie von Anton Karas vertraut sein, während sie den Film, zu dem sie 1949 entstanden war und der ebenfalls als Klassiker seines Genres gilt, vielleicht schon vergessen haben oder niemals sahen. Ein Nachkriegs­thriller mit Orson Welles und Joseph Cotten in den Hauptrolle­n, nach einem Drehbuch von Graham Greene. Der Streifen spielt 1946 in Wien. Es geht um den dritten Klassiker, von dem in diesem Zusammenha­ng zu sprechen ist, und den nun wirklich nahezu jeder Mensch kennen dürfte: Penicillin. Schimmelpi­lz, Schmuggelw­are, Lebensrett­er, Wunderdrog­e und Sensation in einem. 1946 begann man in Deutschlan­d mit der Produktion der ersten Antibiotik­a als Arzneimitt­el.

Penicillin und seine antibakter­ielle Wirkung kannte man damals – ein Jahr nach Kriegsende – seit 18 Jahren. Der als ein klein wenig unordentli­ch beschriebe­ne schottisch­e Mikrobiolo­ge Sir Alexander Fleming hatte es 1928 entdeckt, oder besser gesagt: gefunden. Wie der Mediziner Christoph Goddemeier einst in einer Abhandlung für das »Ärzteblatt« schrieb, anerkannte Fleming zeitlebens den Anteil des Glücks an diesem seinem Fund, den er nur ungern als »Entdeckung« bezeichnet sah. Alles hatte im Grunde mit einem Zufall begonnen. Bevor er mit seiner Familie in die Ferien reiste, hatte Fleming an seinem Arbeitspla­tz im Londoner St. Mary’s Hospital eine Kolonie Staphyloko­kken – Erreger, die beispielsw­eise eine Lungenentz­ündung hervorrufe­n können – in einer Schale verges- sen. Als er aus dem Urlaub zurückkehr­te, fand er darin stattdesse­n eine Kolonie Schimmelpi­lze vor, die den in ihrer Umgebung befindlich­en Bakterien offensicht­lich den Garaus gemacht hatten. Sie waren vermutlich aus der Luft gekommen und hatten die Mikroben vernichtet, ganz offenkundi­g durch einen Stoff, der später als »Penicilliu­m notatum« isoliert wurde.

Seit diesem Tag hätte Hoffnung in der Welt sein können. Hoffnung auf ein Mittel, das imstande war, fürchterli­che Krankheite­n wie Milzbrand, Gonorrhö, Tuberkulos­e oder Hirnhauten­tzündung zu bekämpfen. Doch es geschah nichts, niemand interessie­rte sich für das Penicillin. Man verkannte schlicht das Potenzial des Bakterien fressenden Wundermitt­els. Stattdesse­n setzte man auf die Weiterentw­icklung anderer Substanzen. 1932 hatte der Pathologe Gerhard Domagk, ein Brandenbur­ger, Prontosil synthetisi­ert. Das Sulfonamid wies einen verblüffen­den Heileffekt bei sonst tödlichen Infektione­n auf. Fleming selbst hatte sich enttäuscht von den Schimmelpi­lzen abgewendet, als es ihm vorerst nicht gelungen war, ein effektives Produktion­sverfahren für sein Medikament zu entwickeln. Das schafften erst zehn Jahre später Howard Florey und Ernest Boris Chain unter dem Druck des Krieges, in dem sich die Soldaten schrecklic­he Verletzung­en und Krankheite­n zuzogen und man dringend wirksame Medikament­e dagegen benötigte.

1941 konnte der erste englische Patient mit Penicillin behandelt werden. Der 43-jährige Polizist aus London hatte sich beim Rosenschne­iden verletzt und durch eine Infektion der Wunde eine Blutvergif­tung erlitten. Nach fünf Tagen war das Fieber verschwund­en und der Mann hätte vielleicht sogar geheilt werden können, wenn nicht die Penicillin­vorräte zu Ende gewesen wären. So aber starb er. Florey und Chain erhielten zusammen mit Fleming 1945 den Nobelpreis. Ihre bahnbreche­nde Forschung hatte sich allerdings schon einige Jahre zuvor auf der Grundlage bilaterale­r Verträge von England in die Vereinigte­n Staaten verlagert, so dass amerikanis­che Soldaten die Wundermedi­zin zurück nach Europa brachten. Hier wurde zwar auch an verschiede­nen Einrichtun­gen in Jena oder Aachen am Penicillin geforscht, jedoch erst Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre mit dem Ergebnis von Medikament­en, die industriel­l in ausreichen­dem Maße hergestell­t werden konnten. Im VEB Pharmazeut­ische Werke Madaus Radebeul war es der Biologe und Arzneimitt­elforscher Robert Thren, der eine Penicillin-Produktion­slinie aufbaute, im Jenaer Institut für Mikrobiolo­gie der Mediziner Hans Knöll. Bei der Aachener Grünenthal Chemie führte ein Dr. Heinrich Mückter Schimmelpi­lzprodukte zur Marktreife, der dafür offenbar vollkommen skrupellos die Resultate seiner Menschenve­rsuche aus den Jahren 1940 bis 1945 verwendete. Damals hatte er einen Impfstoff gegen Fleckfiebe­r gesucht, der aus infizierte­n Läusen gewonnen wurde. Sowohl für die Läusezucht als auch für Impfstofft­ests behalf sich Mückter als stellvertr­etender Direktor des Institutes für Fleckfiebe­r und Virusforsc­hung in Krakau »mit zwangsrekr­utierten Polen; vermutlich auch mit Juden aus dem Ghetto« und nahm dafür auch deren Tod in Kauf. So jedenfalls beschreibt es Armin D. Steuer 2007 in einem Beitrag für »Spiegel Online«. Mückter wurde dafür nie zur Rechenscha­ft gezogen. »Ein Stillschwe­ige-Kartell dürfte das Nachfragen verhindert haben«, mutmaßte der »Spiegel«-Autor. Grünenthal wurde durch den Erfolg der Penicillin-Lutschtabl­etten vor dem Konkurs bewahrt und Mückter generös am Umsatz beteiligt. Über ein Jahrzehnt später bescherte er der Firma mit dem schrecklic­hen Contergan ein neues Umsatzhoch. Als erste Indizien für Missbildun­gen von Föten infolge der Einnahme des Mittels gegen Kopfschmer­z auftauchte­n, spielte Mückter auf Zeit und nahm wiederum menschlich­e Opfer billigend in Kauf, wie Steuer schrieb. Er verhielt sich im Grunde wie damals in Krakau. Mückter wurde nie belangt und starb als braver Katholik. Die Geschichte seines Wirkens hätte wohl ein ähnliches Thrillerpo­tenzial wie die Story vom Penicillin­schmuggel in der von Infektione­n aller Art gebeutelte­n europäisch­en Nachkriegs­zeit.

Schamlose Schwarzhän­dler kauften die begehrte Arznei in Wien von amerikanis­chen Soldaten, um sie – oft genug gestreckt – zum Zigfachen des Einkaufspr­eises an bedauernsw­erte Kranke zu verscherbe­ln. In »Der dritte Mann« gibt es eine bemerkensw­erte Sequenz auf der Kinderstat­ion eines Krankenhau­ses. Dorthin hat der Ermittler den Freund des Penicillin­schmuggler­s geführt, um ihm zu zeigen, was das gepanschte Medikament bewirkt. Dem Zuschauer bleibt der Anblick der todkranken Kinder erspart, die Kamera fährt lediglich an den Bettchen entlang und begnügt sich damit, den entsetzten Blick des Gangsterfr­eundes aufzufange­n, der anschließe­nd einen Sinneswand­el erfährt und am Ende seinen einstigen Kameraden erschießt. Die Schlüssels­zene illustrier­t ein Problem, das im Zusammenha­ng mit allen nachfolgen­den Generation­en von Antibiotik­a bis zum heutigen Tag nicht gelöst werden konnte: die Bildung von Resistenze­n bei den angegriffe­nen Bakterien. Alexander Fleming hatte diese Entwicklun­g in seiner Nobelpreis­Rede vor 71 Jahren schon vorweggeno­mmen: »Die Zeit wird kommen, da Penicillin von jedem im Geschäft gekauft werden kann. Dann besteht die Gefahr, dass der Unwissende sich selbst unterdosie­rt und seine Mikroben mit nicht tödlichen Mengen des Medikament­s resistent macht«.

Unwissenhe­it ist 70 Jahre nach dem Beginn der Antibiotik­aproduktio­n in Deutschlan­d noch immer an der Tagesordnu­ng. Wir wähnen uns im Besitz eines schlagkräf­tigen Mittels gegen todbringen­de Keime, also wenden wir es an. Auch dann, wenn es nutzlos ist, weil ein Virus unsere Krankheit hervorruft. Erst kürzlich untersucht­e eine große gesetzlich­e Krankenkas­se alle Antibiotik­a-Verordnung­en der Ärzte und fand heraus: Ein Drittel davon ist fragwürdig. Oder wir wenden es falsch an, indem wir es mit Flüssigkei­ten schlucken, die mit dem Antibiotik­um zusammen zu ungewünsch­ten chemischen Reaktionen im Körper führen können. Oft beendet der Patient die Einnahme zu zeitig, weil er sich gesund wähnt. Das fatale Ergebnis: Es bleiben ein paar Keime übrig, die dem Antibiotik­um trotzen können, und die geben diese Resistenz an ihre Artgenosse­n weiter. In einigen Ländern werden Antibiotik­a vorbeugend gegeben – mit den gleichen unbeabsich­tigten Konsequenz­en der Resistenze­nbildung. Vielfach sind sie frei verkäuflic­h und werden ohne Diagnose eines Arztes genommen.

In Deutschlan­d erhalten darüber hinaus 80 Prozent der Milchkühe regelmäßig Antibiotik­a, jede zehnte Behandlung erfolgt mit sogenannte­n Reserveant­ibiotika, die eigentlich für Menschen vorgesehen sind, bei denen andere Antibiotik­a nicht mehr wirken. Colistin ist so eine medizinisc­he Notwaffe. Doch ausgerechn­et dagegen entwickelt­e chinesisch­en Forschern zufolge ein von ihnen entdeckter Keim eine Resistenz, die von einem zum anderen Bakterium weitergege­ben werden kann. Einem Bericht vom vergangene­n Jahr zufolge, den die britische Regierung in Auftrag gegeben hatte, sterben bereits heute 700 000 Menschen jedes Jahr an Bakterien, die gegen fast alle bekannten Antibiotik­a resistent sind. Bis 2050, so vermuten die Forscher, könnte diese Zahl auf zehn Millionen im Jahr steigen. Höchste Zeit für Wissenscha­ft und Politik, ihre Bemühungen um die Erforschun­g neuer Antibiotik­a und neuer Therapien zur Unschädlic­hmachung von Infektions­erregern zu intensivie­ren, wenn der Mensch nicht eines Tages wieder jede Lungenentz­ündung als Todesbring­erin fürchten soll.

Unwissenhe­it ist 70 Jahre nach dem Beginn der Antibiotik­aproduktio­n in Deutschlan­d noch immer an der Tagesordnu­ng. Wir wähnen uns im Besitz eines schlagkräf­tigen Mittels gegen todbringen­de Keime, also wenden wir es an. Auch dann, wenn es nutzlos ist, weil ein Virus unsere Krankheit hervorruft.

Silvia Ottow, Jahrgang 1953, ist »nd«-Redakteuri­n für Gesundheit.

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