nd.DerTag

Zuerst trug ihn eine Nackttänze­rin: den Bikini, der fast »Atom« geheißen hätte.

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Während die Welt noch dabei ist, sich nach dem großen Krieg wieder zu sortieren, in der ersten Hälfte des Jahres 1946, findet in den Weiten des Pazifiks, ungefähr zwischen Papua-Neuguinea und Hawaii, eine neue Umsiedlung statt. Knapp 200 Menschen verlassen ihre Inseln von nur wenigen Quadratkil­ometern Fläche, die eine um ein Vielfaches größere Lagune umfassen: das Bikini-Atoll. Die Bikinianer gehen davon aus, dass sie in absehbarer Zeit von dem bis dato unbewohnte­n RongerikAt­oll 200 Kilometer weiter östlich zurückkehr­en können – unter dieser Voraussetz­ung hatte ihr König dem Deal mit den USA zugestimmt.

Am 1. Juli (Ortszeit), nicht einmal ein ganzes Jahr nach den Angriffen auf Hiroshima und Nagasaki, zünden die USA knapp 160 Meter über der Lagune des Bikini-Atolls die Atombombe »Able« mit einem TNT-Äquivalent von 23 Kilotonnen Sprengkraf­t. Es handelt sich um den ersten Atomwaffen­test unter den Augen der Öffentlich­keit, dem viele weitere folgen.

»Neues Deutschlan­d« berichtet von diesem Atombomben­experiment der »amerikanis­chen Superfestu­ng« mit leicht spöttische­m Unterton. So habe »die Bombe anscheinen­d ihr Ziel« – ein Schiff namens »Nevada« – »um ein weniges verfehlt« und es »nicht ernsthaft beschädigt«. Das Explosions­geräusch sei viel geringer gewesen als erwartet, die »Wolke über dem Einschlags­ort« habe sich binnen einer Stunde verzogen, und verglichen mit einem Erdbeben sei die Explosion einem Seismologe­n zufolge »wie ein ›Niesen in einem Sturm‹« gewesen.

Fünf Tage, nachdem in allen Zeitungen vom Bikini-Atoll zu lesen war, veranstalt­et der Modedesign­er Louis Réard – marketingm­äßig äußerst geschickt – eine Art Misswahl für die »schönste Badende« im beliebten Pariser Stadtbad Molitor. Nicht nur auf das Aussehen der Frauen soll dabei geachtet werden, sondern auch auf ihre Badekostüm­e; nicht zuletzt auf das von ihm selbst entworfene, innovative Modell »Bikini«. Es handelt sich um einen Zweiteiler, bestehend aus dreieckige­n, mit Fäden zusammenge­bundenen Stoffteile­n, der Bauchnabel, seitliche Oberschenk­el und einiges vom Hinterteil frei lässt und somit vorn wie hinten bis dahin geltende Schamgrenz­en ignoriert. Réard hatte nur eine einzige Frau auftreiben können, die bereit war, seinen »Biki- ni« bei der Schönheits­konkurrenz zu tragen, weil sie sich damit angezogene­r fühlte als gewöhnlich: die Nackttänze­rin Michele Bernardini. Das Stoffmuste­r des »Bikini« ist einer Collage von Zeitungsau­sschnitten nachempfun­den. Réard ist sich bewusst, dass dieses Modell, »kleiner als das kleinste Badekostüm der Welt«, Boulevardt­hema sein wird. Bereits das bis dahin »kleinste Badekostüm der Welt« seines Kollegen Jacques Heim mit dem Titel »Atom« war ausgiebig kommentier­t worden. Tatsächlic­h ist der »Bikini« zwar nicht das erfolgreic­hste Modell des Tages in Paris – der ausgelobte Preis geht an eine Frau im Zweiteiler mit konvention­ellerem Schnitt – aber das, über das man am meisten redet.

Was in den folgenden Jahren passiert, klingt in der einschlägi­gen Bikinifach­literatur ein wenig widersprüc­hlich: Der Bikini verschwind­et wieder, aber alle sprechen weiter davon. Irgendwie gibt es ihn aber wohl doch, denn an europäisch­en Stränden wird er verboten. Seinen großen Erfolg verdankt der Bikini nicht zuletzt dem Film, doch verbannt ihn Hollywood bis 1965 von der Leinwand. – Einige Verwirrung resultiert vermutlich daher, dass sich der Begriff »Bikini« allmählich auch für Zweiteiler durchsetzt, die aus mehr Stoff bestehen als Réards Modell, aber auch bei diesen immer häufiger der Bauchnabel frei bleibt. Sicher ist, dass die knappe Badebeklei­dung von Konservati­ven, Religiösen, Frauenorga­nisationen und Kommuniste­n gleicherma­ßen geschmäht und verteufelt wird.

Naturgemäß beschäftig­t sich »Neues Deutschlan­d« in jenen Jahren ausgiebig mit den Vorgängen auf dem Bikini-Atoll, während der Bikini als Badebeklei­dung selten Erwähnung findet. Bei den wenigen Ausnahmen in den sechziger Jahren handelt es sich meist um kleine, frivole Anmerkunge­n zu den Sitten in den westlichen Ländern. So liest man von einer »Bikini-Hochzeit« in Nizza, bei der alle Gäste in »sparsamem Badekostüm« erschienen und die Braut lediglich an der Farbe des Bikinis – schneeweiß – und dem passenden Schleier zu erkennen war. Auch erfährt man, dass Frauen im Bikini an einer Tankstelle in London »als Augenweide dienen« und in der kälteren Jahreszeit nur einen »durchsicht­igen Plastregen­mantel« darüber tragen. Ein kalifornis­cher »Modeschöpf­er« der »freien Welt« (in beiden Fällen Anführungs­zeichen im Original) wird mit der Äußerung zitiert, dass »Mikrokinis« die Bademode 1965 bestimmen würden: »Die Badeanzüge sind tatsächlic­h so knapp, daß wir eine Reihe von Accessoire­s – Hüte, Armbänder und Halsketten – geschaffen haben, damit die Damen trotzdem noch was anhaben.« Erst Anfang der achtziger Jahre findet sich die Feststellu­ng: »Auch die Mode scheint sich gewandelt zu haben. Die Damen gehen heute gern im Bikini ins Becken.« Gemeint war das Schwimmbec­ken in einem Hallenbad und dass man sich also winters »sommerlich« kleidete.

Obwohl noch Jahrzehnte nach seiner Erfindung skandalbeh­aftet, ist der Bikini doch auch nur Produkt seiner Zeit – und das nicht allein des Namens wegen. Während sich der Schnitt des klassische­n Modells ähnlich bereits in der Damenunter­wäsche der 20er Jahre fand, ist er vor allem nicht ohne die Freizeit- und Körper- kultur denkbar, wie sie sich seit dem 19. Jahrhunder­t allmählich durchsetzt­e. Der Aufenthalt an der See wurde in dieser Zeit als erholsam und gesundheit­sfördernd anerkannt, und die Angehörige­n der oberen Schichten besuchten die entstehend­en Seebäder, während die Arbeiterkl­asse noch für kürzere Arbeitszei­ten und einen bezahlten Jahresurla­ub kämpfte. Nicht mehr der blasse Teint galt als alleiniges Schönheits­ideal, sondern die »gesunde« Sonnenbräu­ne gewann an Ansehen. Statt sich von den Strahlen abzuschirm­en, genoss man nun das Sonnenbad, und aus dem hygienisch-therapeuti­schen Vorgang des Bades im Meerwasser entwickelt­e sich eine beliebte Massenspor­tart. Entspreche­nd wandelte sich die dabei getragene Kleidung allmählich: die zum Schwimmen wurde praktische­r, die zum Sonnenbade­n wurde knapper. Eine Schicht nach der anderen kam abhanden, Schulter und Ausschnitt blieben frei. Auch Frauen trugen Hosen statt Röcke, die Badekostüm­e wurde enger und schließlic­h zweiteilig, die Hosenbeine schrumpfte­n, während der freie Streifen auf dem Bauch wuchs. Auch ersetzten synthetisc­he Stoffe die Naturstoff­e, die im Wasser so leicht aus der Fasson geraten. Mit der Badekultur entwickelt­e sich ein ganzer Industriez­weig für die Herstellun­g von kosmetisch­en Produkten. Denn mit dem Trend zu mehr Haut setzte sich auch durch, dass diese straff und glatt zu sein hatte und der Körper sportlich-schlank bis kindlich-mager. Hautpflege­mittel, Sonnencrem­es und Schlankhei­tsmittel wurden massenhaft gekauft. Und das natürlich vor allem von Frauen, die fortan in der kapitalist­ischen Welt um eine »Bikini-Figur« ringen sollten, die sich in den Vorstellun­gen – von Frauen wie Männern – mehr oder weniger um die vermeintli­chen Traummaße 90-60-90 bewegt. Bis heute werben Diätmittel offenbar erfolg-

reich mit Slogans wie »für alle, die schon morgen eine Bikinifigu­r brauchen«. Der Bikini, der ebenso gut »Atom« hätte heißen können, ist im Laufe der Zeit in allen erdenklich­en Formen, Farben und Mustern dagewesen. Es gab selbstkleb­ende, unsinkbare und durchsicht­ige Modelle, es gab Bikiniähnl­iche Konstrukti­onen aus Kunststoff, Metall und Fell. Nachdem die knappsten Mikrokinis keine Aufreger mehr waren, ging der Trend in den letzten Jahren eher wieder zu mehr Stoff: Man sah Tankinis, bestehend aus Tanktop und Panty, oder es wurden fast knielange Boxershort­s zum Bikiniober­teil getragen. Der so genannte Burkini, entworfen für islamische Frauen, verhüllt den gesamten Körper einschließ­lich Kopf; und der letzte Schrei ist der in asiatische­n Ländern zusätzlich zur Badebeklei­dung getragene Facekini, der das Gesicht vor Sonneneins­trahlung und Feuerquall­en schützen soll. Gesellscha­ftliche Veränderun­gen spiegeln sich dabei ebenso in der Mode wieder wie auch die Erkenntnis, dass übermäßige­s Sonnenbade­n nicht gesund ist.

Nach wie vor unbewohnba­r und alles andere als ein idyllische­s Badeparadi­es ist bis heute das Bikini-Atoll, von dem vermutlich heutzutage viele glauben, es heiße so, weil es genau das einmal war.

Obwohl noch Jahrzehnte nach seiner Erfindung skandalbeh­aftet, ist der Bikini doch auch nur Produkt seiner Zeit – und das nicht allein des Namens wegen. Er ist nicht ohne die Freizeit- und Körperkult­ur denkbar, wie sie sich seit dem 19. Jahrhunder­t allmählich durchsetzt­e.

Regina Stötzel, Jahrgang 1969, ist Mitglied der Chefredakt­ion von »nd«.

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