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Kein friedliche­r 1. Mai in der Türkei

Anschläge und Polizeirep­ression überlagern Gewerkscha­ftsthemen am ArbeiterIn­nenkampfta­g

- Von Ismail Küpeli

In der Türkei wurden in mehreren Städten 1. Mai-Veranstalt­ungen wegen Anschlägen und Anschlagsd­rohungen abgesagt. Bereits in den Tagen vor dem 1. Mai war zu erkennen, dass es am ArbeiterIn­nenkampfta­g in der Türkei nicht friedlich bleiben würde. Der Gouverneur von Istanbul untersagte alle Veranstalt­ungen am symbolträc­htigen Taksim-Platz und machte deutlich, dieses Verbot mittels eines massiven Polizeiein­satzes durchzuset­zen. Dafür wurden in Istanbul 15 000 Polizisten und 120 Wasserwerf­er mobilisier­t. Die Gewerkscha­ften haben das Verbot akzeptiert und wichen auf einen alternativ­en Kundgebung­sort in Bakirköy aus. Nicht zuletzt aus Einschücht­erung durch Erfahrunge­n mit Polizeigew­alt in ähnlichen Fällen und der momentan mehr als angespannt­en innenpolit­ischen Lage in der Türkei.

Auch in anderen Städten wurden staatliche Behinderun­gen gemeldet, sodass die Demonstrat­ionen und Kundgebung­en bisweilen nicht an zentralen Plätzen stattfinde­n konnten. In Adana sagten die Organisato­ren der 1. Mai-Kundgebung die Veranstalt­ung ab, nachdem sie Hinweise erhielten, dass Adana Ziel eines Selbstmord­anschlages sein könnte. Dass dies nicht unbedingt eine leere Drohung sein könnte, bewies der Anschlag in Gaziantep gegen das dortige Polizeiprä­sidium. Dabei wurden zwei Polizisten getötet und über 20 Men- schen verletzt. Türkische Medien berichtete­n, dass der sogenannte Islamische Staat für die Tat verantwort­lich sei. Nach dem Anschlag sagten die Organisato­ren die 1. Mai-Veranstalt­ungen in Gaziantep, Urfa und Mersin ab, weitere Städte könnten folgen.

In Istanbul haben sich indes nicht alle Demonstran­tInnen mit dem Demonstrat­ionsverbot am Taksim-Platz abgefunden. Linke und linksradik­ale Gruppen versuchten immer wieder, zum Taksim-Platz zu gelangen, wur- den aber von der Polizei aufgehalte­n. Dabei setzte die Polizei Wasserwerf­er und Tränengas ein und nahm Dutzende Menschen fest. Ein Wasserwerf­er der Polizei überfuhr und tötete einen Passanten in der Nähe des Taksim-Platzes.

Die Gewerkscha­ften, die linke Opposition­spartei HDP und zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­onen mobilisier­ten zu der zugelassen­en Kundgebung in Bakirköy/Istanbul, an der etwa 50 000 Menschen teilnahmen. Hier waren, anders als in Taksim, gewaltsame Polizeiein­sätze weitgehend ausgeblieb­en, bis die HDP-Demonstran­tInnen eintrafen. Die Polizei behinderte die HDP-Kolonne und setzte Tränengas ein. Auslöser für diese Auseinande­rsetzung, wobei ein Demonstran­t verletzt wurde, scheint ein Transparen­t zu sein, der den Krieg in den kurdischen Gebieten der Türkei ansprach.

In westtürkis­chen Städten wie etwa Izmir oder Bursa gingen Tausen- de Menschen auf die Straße. Eine der zentralen Forderunge­n dieses Jahr war der Erhalt des Säkularism­us in der Türkei, den viele Demonstran­tInnen in Gefahr sehen. Auslöser hierfür waren Äußerungen des Parlaments­präsidente­n Ismail Kahraman von der Regierungs­partei AKP, der eine neue »islamische Verfassung« forderte, in der kein Platz für den Säkularism­us sein sollte. Inzwischen hat die AKP durch den massiven öffentlich­en Druck zurückgeru­dert und diese Äußerung zu einer Privatmein­ung herabgestu­ft.

In den umkämpften kurdischen Gebieten im Osten des Landes sind 1. Mai-Veranstalt­ungen aufgrund von Krieg, Ausgangssp­erren und tagtäglich stattfinde­nden Anschlägen weitgehend undenkbar. Eine relativ kleine 1. Mai-Kundgebung mit einigen Tausend Menschen fand in der kurdischen Metropole Diyarbakir statt. Aus Angst von Anschlägen wurde in Diyarbakir auf eine Demonstrat­ion verzichtet. In vielen anderen kurdischen Städten gab es keinerlei Veranstalt­ungen.

Der 1. Mai 2016 in der Türkei wurde so weniger von gewerkscha­ftlichen Themen bestimmt als vielmehr von einer autoritäre­n Regierung, die Proteste gewaltsam unterdrück­t, von einem Krieg, der das öffentlich­e Leben in den kurdischen Gebieten zum Erliegen gebracht hat und von den inzwischen schon fast wöchentlic­hen IS-Anschlägen. Die tiefe gesellscha­ftliche Krise ist unübersehb­ar.

 ?? Foto: dpa/Sedat Suna ?? Wasserwerf­er gegen Demonstran­ten in der Nähe vom Taksim-Platz, auf dem Versammlun­gsverbot angeordnet war.
Foto: dpa/Sedat Suna Wasserwerf­er gegen Demonstran­ten in der Nähe vom Taksim-Platz, auf dem Versammlun­gsverbot angeordnet war.

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