Von der kurdischen Frauenguerilla lernen
Afghanische Menschenrechtsaktivistin Malalai Joya über Taliban, korrupte Warlords und eine politische Alternative
Laut dem deutschen Innenministerium gibt es angeblich »vergleichsweise stabile« Gegenden in Afghanistan, in die Flüchtlinge zurückkehren könnten. Wie ist die Sicherheitslage im Land? Millionen Afghanen leiden unter Armut, Korruption und Menschenrechtsverletzungen. Die Situation wird immer schlimmer, besonders für Frauen. Erst kürzlich wurde eine 27Jährige von einer Meute verbrannt und in einen Fluss geworfen, eine 19Jährige wurde öffentlich gesteinigt. Die NATO bombardiert unsere Hochzeitsfeiern. In Kabul nehmen Selbstmordattentate zu. Der deutsche Oberst Georg Klein hat 2009 einen Luftangriff in Kundus angefordert, Zivilisten sind gestorben. Jetzt lehnt Deutschland Asyl für afghanische Flüchtlinge ab. Können Sie das nachvollziehen? Die deutsche Regierung sollte sich zumindest an die internationalen Flüchtlingsabkommen halten. Syrische Flüchtlinge bekommen Asyl, afghanische Flüchtlinge aber nicht. Die jungen Menschen fliehen nicht nach Deutschland, weil sie ein komfortables Leben suchen. Deutschland trägt auch eine Mitverantwortung für die katastrophale Situation im Land. Die Taliban haben eine neue Offensive angekündigt. Sind die Fundamentalisten auf dem Vormarsch? Sebastian Bähr. Die Besatzer der US-geführten Militärallianz sind nicht ernsthaft bereit, die Taliban zu bekämpfen. Zwei ehemalige Taliban-Minister leben unbehelligt in Kabul. Aus Gefängnissen entlassene Taliban werden von der Regierung in Empfang genommen. Länder wie Pakistan unterstützen die Terroristen. Durch die Integration der Taliban wird die Situation aber noch gefährlicher. Sind Sie gegen die Friedensverhandlungen? Gegen diese definitiv. Was ist das Resultat? Fundamentalistische Warlords verhandeln mit frauenfeindlichen Taliban. Von beiden ist keine Verbesserung zu erwarten, bereits jetzt werden Frauen geschlagen und ihnen Nasen und Ohren als Strafe abgeschnitten. Sie können sich vorstellen, was passiert, wenn die Taliban wieder mehr Einfluss gewinnen. Wir brauchen einen Friedensprozess, der demokratische, fortschrittliche Kräfte stärkt. Vor Kurzem wurde der neue Präsident Aschraf Ghani gewählt. Wie souverän ist Ihr Land? Afghanistan hat eine Marionettenregierung. De facto haben wir zwei Präsidenten. Den Warlord und Regierungschef Abdullah Abdullah sowie den westlich-orientierten Technokraten Aschraf Ghani. Die Afghanen sind zwischen Feinden eingepresst. Warlords, Taliban, Besatzer und IS-Terroristen wollen alle jeweils ihre Macht vergrößern. Mal kämpfen sie gegeneinander, mal verbünden sie sich. Welche Rolle spielt der Islamische Staat, der IS, in Afghanistan? Der IS ist ein neues Phänomen. Seine Milizen sind den Taliban ähnlich, nur ihre Flagge ist anders. Die normalen Leute hassen die IS-Kämpfer, sie wissen, was sie in Syrien und Irak getan haben. Sie zahlen aber bis zu 600 Dollar pro Monat, damit versuchen sie die arbeitslose Jugend zu erreichen. Seit 2001 befindet sich die US-geführte internationale Militärkoalition im Land. Wie bewerten Sie im Nachhinein die militärische Intervention? Sie war eine tragische Entscheidung. Menschenrechte können nie durch militärische Interventionen durchgesetzt werden. Gesellschaften können sich nur selbst befreien, nicht Staaten einen anderen Staat. Westlicher Imperialismus und Fundamentalismus sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Menschen im Westen müssen verhindern, dass ihre Regierungen Autokraten an die Macht bringen. Wenn die westliche Kriegspolitik nicht aufhört, werden auch unschuldige Bürger darunter leiden, so wie es in Brüssel oder Paris geschehen ist. Wie stark sind die progressiven Kräfte in Afghanistan? Der Widerstand, den ich gegen Besatzung und Fundamentalismus beobachte, gibt mir Hoffnung. Wir erlebten vor kurzem den »TabassumAufstand«. Die Bewegung benannte sich nach einem neunjährigen Mädchen, das vom Islamischen Staat geköpft wurde. Tausende zogen zum Präsidentenpalast und protestierten gegen das Regime. Das zeigt den Hass, den viele Afghanen gegenüber der korrupten Machtelite haben, die nicht imstande ist, sie zu schützen. Sie haben mehrere Mordanschläge überlebt. Wie groß ist die Gefahr für Sie? Ich lebe im Untergrund und habe mehrere Personenschützer, die auf mich aufpassen. Um unerkannt zu bleiben, muss ich eine Burka tragen. Ich muss auch regelmäßig die Wohnung wechseln. Von den Medien wird mir vorgeworfen, dass ich das Ausland besuche. Ich fühle mich in meinem eigenen Land wie eine politische Gefangene. Was fordern Sie von der deutschen Regierung? Als erstes muss sich die deutsche Regierung entschuldigen für das, was sie meinem Land angetan hat. Dann muss sie die Besatzung beenden. Deutschland hat sich in den letzten 15 Jahren an Kriegsverbrechen wie dem Luftangriff in Kundus mitschuldig gemacht. In seinem Einflussgebiet hat es eng mit Warlords wie Atta Mohammad Noor zusammengearbeitet. Er ist Gouverneur der Provinz Balch, in dessen Hauptstadt Masar-e Scharif die Bundeswehr ihr größtes Feldlager hatte. Sie tragen ein Bild der kurdischen Frauenguerilla aus Nordsyrien bei sich. Warum? Die kurdischen Kämpferinnen sind meine Heldinnen. Sie beweisen, dass Frauen, die sich zusammenschließen und organisieren, nicht mal von einer Supermacht gestoppt werden können. Afghanische Frauen sollten von den kurdischen Kämpferinnen lernen, damit unser Land einen alternativen Weg einschlagen kann.