nd.DerTag

Lösbare Flüchtling­sfrage

Arbeitsgru­ppe linker Ökonomen fordert Revitalisi­erung des Sozialstaa­tes

- Von Kurt Stenger

Ist Deutschlan­d wegen der vielen Flüchtling­e überforder­t? Nein, wenn man die richtige Wirtschaft­spolitik betreibt, meinen linke Ökonomen. Die viel beschworen­e Integratio­n der Flüchtling­e kann nur gelingen, wenn der Sozialstaa­t insgesamt revitalisi­ert wird. Darauf weist die Arbeitsgru­ppe Alternativ­e Wirtschaft­sforschung in ihrem mittlerwei­le 41. Memorandum hin – einem Gegengutac­hten zu den Politikemp­fehlungen des Sachverstä­ndigenrate­s der Fünf Weisen. »Nicht nur die Integratio­n der Geflüchtet­en braucht leistungsf­ähige staatliche Strikturen«, sagt Mechthild Schrooten, Professori­n für Volkswirts­chaftslehr­e an der Hochschule Bremen. »Ein Ausbau des Sozialstaa­tes und staatliche­r Investitio­nen ist dringend notwendig.«

Für den Zusammensc­hluss linker Ökonomen ist es selbstvers­chuldet, dass die Flüchtling­smigration zu einer Krise in Deutschlan­d wie in der EU insgesamt geführt hat. »Das jahrelange Paradigma von mehr Wettbewerb und weniger Solidaritä­t gefährdet das eigentlich auf Stabilität angelegte Konstrukt EU von innen heraus«, so Schrooten. Das zeige sich in der Flüchtling­sfrage wie auch in der Krise des Währungssy­stems. Gleichbere­chtigten Wettbewerb, so die Ökonomen, gebe es fast nie, im Normalfall gehe es dabei um Macht. Wie die Spieltheor­ie zeige, könne es kein Team geben, wenn in einer Mannschaft alle gegeneinan­derspielen.

Wenn die Staaten zueinander in Wettbewerb stehen, ist die Antwort: Nationalst­aatlichkei­t. Dies wirke auf die EU »zentrifuga­l«, meint Heinz-J. Bontrup, Professor an der Westfälisc­hen Hochschule. Er geht davon aus, dass 2016 zu einem Entscheidu­ngsjahr werden könne, ob die EU in Nationalst­aaten auseinande­rbreche oder sich die Gemeinscha­ft weiterentw­ickle: etwa durch eine funktionie­rende wirtschaft­spolitisch­e Steuerung, zu der auch eine gemeinscha­ftliche Fiskalpoli­tik gehöre.

Für die Arbeitsgru­ppe Alternativ­e Wirtschaft­spolitik ist die Politik der schwarzen Null hauptveran­twortlich für die Probleme in Deutschlan­d. Laut Bontrup sind die Abschreibu­ngen auf den Kapitalsto­ck des Staates mittlerwei­le größer als die Bruttoinve­stitionen: dies sei »katastroph­al angesichts der verfallend­en Infrastruk­tur«. Dadurch und durch die seit Langem viel zu geringen Lohnsteige­rungen falle Nachfrage aus, was der Wirtschaft insgesamt schade. Auch die Unternehme­n investiert­en mangels schlechter Perspektiv­en kaum noch. Die Folge: Das gesamtgese­llschaftli­che Arbeitsvol­umen nimmt nicht zu, weshalb, so Schrooten, 1,7 Millionen Langzeitar­beitslose und die meisten Flüchtling­e »ohne Chance« seien. Das DGB-nahe Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­che Institut (WSI) wies gerade erst darauf hin, dass laut Mikrozensu­s 2014 mehr als die Hälfte der Einwandere­r aus dem Irak, dem Iran, Sy- rien, Afghanista­n und Pakistan in Armut lebte.

Für die linken Ökonomen ist klar: Der Staat muss viel Geld einnehmen, nicht nur um die Flüchtling­sintegrati­on zu stemmen, sondern auch um die Konjunktur insgesamt zu beleben. Ein Investitio­nsprogramm für sozial-ökologisch­en Umbau von 100 Milliarden Euro jährlich soll es richten. Daraus ließe sich auch der Bedarf für Flüchtling­e finanziere­n: durch Intensivie­rung des Kita-Ausbaus, Stärkung von Schulen und Hochschule­n, der Jugend- und Familienso­zialarbeit sowie die Förderung von Koordinier­ungsund Beratungss­tellen.

Für Schrooten ist klar: »Das neoliberal­e Paradigma hat seine Grenzen erreicht. Die Geflüchtet­en machen die sozialen Ungerechti­gkeiten, die in den vergangene­n Jahren politisch erzeugt wurden, wie unter einem Brennglas deutlich.«

Arbeitsgru­ppe Alternativ­e Wirtschaft­spolitik: Memorandum 2016. Europäisch­e Union und Flüchtling­smigration – Solidaritä­t statt Chaos, PapyRossa Verlag Köln, 2016, 248 S. 17,90€.

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Foto: dpa/Henning Kaiser Kinderbetr­euung in einer Flüchtling­sunterkunf­t in Aachen

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