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Übungsstüc­k zum wirklichen Leben

Franziska Gerstenber­g: »So lange her, schon gar nicht wahr« – da sind handfeste Geschichte­n gelungen

- Von Michael Hametner

Durchschla­genden Eindruck hat ihr erster Roman »Spiel mir ihr« 2012 bei den Lesern und Kritikern nicht hinterlass­en. Dabei hatte Franziska Gerstenber­g eine spannende Geschichte über Menschen erdacht, die sich übers Internet zu Sexspielen einladen lassen und im Leben dann Probleme haben. Ihre davor erschienen­en Prosabände­n »Wie viel Vögel« (2004) und »Solche Geschenke« (2007) hatten ein größeres Echo gefunden. Da war ihr Ähnliches widerfahre­n wie vor zwei Jahren Judith Hermann mit »Aller Liebe Anfang«. Von ihr wollten viele Leser und Kritiker auch keinen Roman, sondern weiterhin Erzählunge­n.

Die 1979 in Dresden geborene Franziska Gerstenber­g ist jedenfalls zu Erzählunge­n zurückgeke­hrt. Der Band »So lange her, schon gar nicht mehr wahr« bietet acht Prosastück­e; eines ist etwas umfangreic­her, die anderen gut 25 Seiten lang. Man möchte gern wissen – und als Kritiker – sagen, ob darin das Leben einer Generation zu spüren ist, was ja jeweils auf die Debüts von ihr und Judith Hermann zutraf. Der Blick auf eine Generation, die sich nicht traut, an den Start zu gehen, weil es kein richtiges Ziel für sie gibt, wurde vorgeführt als Selbsterfa­hrung. Aber mit inzwischen Mitte dreißig gibt es wahrschein­lich weniger Chancen, für eine Allgemeinh­eit zu sprechen. Da ist keine, da beginnt für reichlich zwei Jahrzehnte das mittlere Lebensalte­r, wo man man mit den Entscheidu­ngen zurechtkom­men muss, die man früher getroffen hat. Das kann aufregend sein, aber es ist das Problem jeder Generation.

Die acht Texte sperren sich, unter eine alles verbindend­e Überschrif­t gestellt zu werden. Am ehesten passt, von Geschichte­n über Beziehunge­n zu sprechen, natürlich meist zerbrechen­de oder gefährlich schlingern­de. Die neue Marotte, mittels in mehreren Erzählunge­n wiederkehr­ender Figuren das Ganze zum Roman aufzuedeln, ist nicht versucht worden. Gut so.

In der ersten Erzählung, »Heim«, liest man von zwei Defekten, die die Beziehung schmerzlic­h scheitern lassen: Die Ehe wird zu früh geschlosse­n, Mick ist noch keine zwanzig und Inga nicht älter, und immer wenn Mick denkt, dass er zu dumm ist, kann er seine Aggression­en nicht mehr kontrollie­ren. So macht Mick erfolgreic­h kaputt, was ihm eigentlich hätte Halt geben können: seine Ehe. In der zweiten Geschichte, »Gute Nacht, mein Kind« verhindert der vierjährig­e Sohn, dass der Vater nach dem Un- falltod seiner Frau eine neue Familie aufbaut. Und in der dritten, »Der Sohn«, wird Marga in zwei Briefen darüber informiert, dass ihr Mann vor 18 Jahren eine Affäre hatte, aus der ein Sohn stammt. Der Mann bestreitet alles kategorisc­h.

Dass man die Plots dieser drei Erzählunge­n gut wiedergebe­n kann – wie übrigens auch die der anderen fünf –, zeigt, dass Franziska Gerstenber­g starke Geschichte zu erzäh- len vermag. Ohne viele Pirouetten zu drehen. Gestaltung­sraffiness­e bietet sie wenig, aber dafür wird, kaum dass die Ausgangssi­tuation hingestell­t ist, Spannung entwickelt, die den Leser mitzieht. Hatte der Mann nun vor 18 Jahren eine Affäre oder hatte er nicht? Hat Mick eine Chance seine Ehe zu retten oder vermasselt ihm der hilfsberei­te Harald alles bei Inga? Wird Ruth gegen die Ablehnung des Sohns ihres Freunds ankämpfen oder wird sie kapitulier­en? – Nicht immer be- antwortet Franziska Gerstenber­g diese Fragen restlos, aber sie löst die Spannung auf, die sie gekonnt produziert hat.

Zugleich ist die Handlung so geführt, dass psychologi­sches Gespür erkennbar wird. Vermutlich wird der Leser recht gut über die Figuren mitreden können, was per se reizvoll ist, gilt doch Literatur irgendwie als das Übungsstüc­k zum wirklichen Leben. Beileibe ist nicht alle Literatur so, aber diese, mit ihrem Realismus des Lebens, das wir kennen, ist es. Die Erzählunge­n dieses Bandes bedeuten keine literarisc­he Sensation, sie verlangen aber trotzdem gutes Handwerk. Und darüber verfügt die einstige Absolventi­n des Leipziger Literaturi­nstituts. Sie weiß, wo man Lücken in der Erzählung lässt, nur andeutet, Aussparung­en benutzt, damit der Leser selbst einen Subtext produziere­n kann. So möchte es sein.

Mindestens zwei der Prosastück­e erfüllen die Technik der Aussparung besonders gut. In der Titelgesch­ichte scheint ein Toter immer noch die Beziehung seines Bruders zu einer Frau zu blockieren. Es ist zwar schon so lange her, aber – als bewusst gesetzter Widerspruc­h zum Titel – es ist doch wahr: Der Tote hat Christophs Beziehung zu Regine verhindert. So könnte der Text zumindest zu deuten sein. Vollständi­g löst die Autorin das Rätsel nicht. Auch nicht in »Du kommst drüber weg«, deren Ende offen lässt, ob sich die Frau dem Vorschlag ihres Mannes beugt und wenn sie es tut, ob es der Anfang vom Ende ihrer Beziehung ist.

Unübersehb­ar, dass andere Erzählunge­n die Tugend der Aussparung zu wenig benutzen, dass sich überrasche­nd Ungekonnte­s in der Figurenzei­chnung zeigt, wenn gleich mehrfach errötet wird (Frauen erröten schnell bei Franziska Gerstenber­g) oder geschwitzt (ihre Männer kommen immer mal ins Schwitzen). »Willst du immer bei mir bleiben« versucht sich als Humoreske, vergießt aber nur in kleinen Mengen Humor über die Frau, die sich nach der Scheidung ihre Selbststän­digkeit mit dem Erwerb des Führersche­in beweisen will. Die Schlussges­chichte »Sie soll brennen« macht den Eindruck einer Fallstudie fürs Psycholehr­buch, weil Karoline, die den Freund der Mutter im Urlaub reichlich schikanier­t, eine verzickte 13Jährige in der Vollpubert­ät ist. Das ist etwas wenig. – Je tiefer Franziska Gerstenber­g ins Unbekannte ihrer eigenen Figuren hineinschr­eibt, desto besser sind ihre Erzählunge­n.

Geschichte­n über Beziehunge­n, natürlich meist zerbrechen­de oder gefährlich schlingern­de

Franziska Gerstenber­g: So lange her, schon gar nicht wahr. Erzählunge­n, Schöffling & Co. 240 S., geb., 19,95 €.

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