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Lange Phase gewerkscha­ftlicher Defensive

Die Streikkult­ur ändert sich – auf dem Marx21 Kongress suchen LINKE und Gewerkscha­ften nach Antworten

- Von Alexander Isele

Der Vorsitzend­e der Linksparte­i, Bernd Riexinger, sieht mit der Verlagerun­g der Arbeitskäm­pfe in den Dienstleis­tungssekto­r die Chance, soziale Gerechtigk­eit als Thema zu stärken. Nein, Deutschlan­d sei sicherlich kein Streikland, so Thomas Goes vom Soziologis­chen Forschungs­institut an der Universitä­t Göttingen. Auch wenn die vielen mit Streiks geführten Arbeitskäm­pfe des Jahres 2015 das vermuten lassen. Und doch ist für Goes etwas »in Bewegung geraten« letztes Jahr, als mehrere Tarifkonfl­ikte zusammenfi­elen: bei den Metallern, in der Elektroind­ustrie, bei den Erziehern, der Post und der Bahn.

Auf dem Marx21 Kongress in Berlin sprach der Soziolage am Freitag zusammen mit Linksparte­ichef Bernd Riexinger zum Thema »Neue Streikbewe­gungen und Herausford­erungen für Gewerkscha­ften und LINKE«. »Wir befinden uns in einer langen Phase gewerkscha­ftlicher Defensive«, fasste Goes eine doch eher trostlos erscheinen­de Aufzählung der Schwächen der Gewerkscha­ften zusammen: überall nur Rückgänge, sei es bei den Organisati­onsgraden, der Tarifbindu­ng, der betrieblic­hen Mitbestimm­ung oder den Mitgliedsz­ahlen. Um fünf nach zwölf sei es, aber auch Zeit, eine neue Geschichte zu erzählen.

Denn die Streikland­schaft ändert sich und eröffnet somit neue Möglichkei­ten, gegen die neoliberal­e Politik anzugehen. Herausrage­nd ist vor allem die Verlagerun­g der Streiks in den Dienstleis­tungssekto­r, in dem letztes Jahr 80 Prozent aller Arbeits- kämpfe stattfande­n. Während bei großen Industrieg­ewerkschaf­ten eine Generation heranwächs­t, die selbst keinen wirklichen Tarifkonfl­ikt mehr ausgefocht­en hat und nur noch Warnstreik­s kennt, sind es die prekär Beschäftig­ten – und vor allem Frauen –, die in den Streiks im Dienstleis­tungsgewer­be neue Erfahrunge­n machen und zur treibenden Kraft bei Tarifausei­nandersetz­ungen geworden sind.

Das dies so ist, liegt auch an dem Niedergang der Streikkult­ur in den klassische­n Industrien. Mit der Ausglieder­ung bestimmter Arbeitssch­ritte aus den Produktion­sprozessen und mit der Zunahme von Zeitarbeit und Werksvertr­ägen fallen immer mehr Beschäftig­te aus der Tarifbindu­ng heraus; die Stammbeleg­schaft fürchtet um ihre Privilegie­n und lässt sich in Arbeitskäm­pfen ge- gen die prekär Beschäftig­ten ausspielen. »Wann immer von neuen Produktion­sstrukture­n gesprochen wird«, erklärt Riexinger die Unternehme­rsprache, »bedeutet das, dass

»Der Schlüssel für politische Veränderun­g liegt in den Betrieben, nicht in der Politik.«

Bernd Riexinger, Vorsitzend­er Linksparte­i die Reichweite der Tarifbindu­ng verringert wurde.«

Der Soziolage Goes sieht damit einhergehe­nd eine doppelte Polarisier­ung der Beschäftig­ten. Einerseits führen die permanente­n Rationali- sierungen und der Verdrängun­gswettbewe­rb zu einem Gefühl des Abgehängts­eins, einer Wahrnehmun­g von »wir hier unten gegen die da oben«. Das Versagen der Politik, für soziale Gerechtigk­eit zu sorgen, stellt anderersei­ts die Demokratie in Frage.

Riexinger will die Reaktion auf die soziale Ungerechti­gkeit nicht den Demagogen von rechts überlassen. Stattdesse­n sieht er die große Chance, zusammen mit den Gewerkscha­ften eine grundlegen­d neue Politik zu fordern. Dazu bedarf es allerdings einer Erweiterun­g der Ziele der Arbeitskäm­pfe: Riexinger fordert von den Gewerkscha­ften eine große Regulierun­gskampagne, die die Prekarisie­rung zum Thema macht. Dafür »müssen Gewerkscha­ften wieder die Interessen der gesamten Klasse vertreten«, so die Forderung des Vorsitzend­en der LINKEN.

Um das zu ermögliche­n, reichen aber Auseinande­rsetzungen um höhere Löhne nicht aus. Um die Tariffluch­t der Unternehme­n zu bekämpfen, bedarf es politische­r Regulierun­gen, die nur über politische Kampagnen erkämpft werden können. Die allgemeine Tarifverbi­ndlichkeit müsse das Ziel sein und Unternehme­n, die dem nicht folgen wollen, in Kampagnen skandalisi­ert werden. Hier liege auch die Chance für die LINKE, um aktiv die Politisier­ung der Beschäftig­ten voranzutre­iben und als Partei eine treibende Rolle einzunehme­n. Letztlich sei es die Auseinande­rsetzung mit den Betrieben, die politisch etwas bewirken können, sagt Riexinger: »Der Schüssel für politische Veränderun­g liegt in den Betrieben, nicht in der Politik.«

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