nd.DerTag

Gabriel und die Schmeißfli­egen

Vielen Sozialdemo­kraten ist die SPD ob ihres schwankend­en Kurses inzwischen peinlich geworden

- Von Tom Strohschne­ider

Der SPD-Chef ist krank. In Zeitungen steht, er könnte bald hinschmeiß­en. Den Sozialdemo­kraten würde das wohl nicht viel helfen. Es sind Zeiten, in denen ein Sigmar Gabriel normalerwe­ise erst so richtig auf Touren kommt. Themen wie Sprengsätz­e, Nachrichte­n wie Zündvorric­htungen, ein SPD-Chef als Lunte. Stoff für einen Vorsitzend­en, der gern die laute Ansprache pflegt, der gern seine Partei und alle anderen sowieso überrascht. Dem weder Programm noch Beschluss ein höheres Wesen sind. Es ist Gabriel-Time, eigentlich: der Zoff um das umstritten­e Freihandel­sabkommen TTIP. Das Gebaren des Erdogan-Regimes und der Anti-Asyl-Deal. Die Tabuisieru­ng der Renten-Debatte durch die Union. Das ewige Abarbeiten der Testostero­npartei CSU an Kanzlerin Merkel. Der Aufstieg der Rechtsauße­n-Partei AfD. Alles wie gemacht für den SPD-Vorsitzend­en. Zum Teil gemacht von Gabriel selbst. Und Gabriel?

Der ist seit Tagen abgetaucht. »Bundeswirt­schaftsmin­ister Sigmar Gabriel hat seinen für Freitag geplanten Besuch im Europäisch­en Astronaute­nzentrum in Köln aus gesundheit­lichen Gründen abgesagt. Der Termin entfällt«, solche Meldungen hat es immer wieder gegeben in dieser Woche. Gabriel hat seine Rede am 1. Mai in Zwickau abgesagt, wo dann an seiner Stelle Justizmini­ster Heiko Maas von »besorgten Bürgern« unter »Volksverrä­ter«Rufen davongejag­t wurde. Gabriel ist nicht in den Iran geflogen zu einer umstritten­en Wirtschaft­sreise. Mal ist von einem Infekt zu lesen, an anderer Stelle wird eine Gürtelrose im Gesicht diagnostiz­iert – die Medien sind längst auf den abwesenden SPD-Chef angesprung­en. Wo ist Gabriel? Wie geht es bei den Sozialdemo­kraten weiter?

Personalde­batten begleiten die Partei wie ein Schwarm hartnäckig­er Schmeißfli­egen. Das hat mit Gabriel persönlich gar nicht viel zu tun, es trifft aber natürlich auch den aktuellen SPD-Vorsitzend­en. Soll er Kanzlerkan­didat werden? Gibt es einen Plan B? Was macht eigentlich Hannelore Kraft? Und kommen am Ende Hamburgs Regierende­r Olaf Scholz oder EU-Parlaments­präsident Martin Schulz zum Zuge? So geht das in einem Fort. Es sind Ersatzhand­lungen mit Spielkarte­n, Gesichtern, Umfragewer­ten. Um die Politik der SPD geht es dabei in der Regel nicht. Oder wüssten Sie auf Anhieb, was der programmat­ische Unterschie­d zwischen Schulz, Scholz und Gabriel ist?

»Der erkrankte Vizekanzle­r Sigmar Gabriel will in Kürze wieder seine Arbeit in Berlin aufnehmen«, meldet die Deutsche Presse-Agentur. Wenn der Gesundheit­szustand von führenden Regierungs­politikern zum Gegenstand der Berichters­tattung des staatsnahe­n Nachrichte­nwesens wird, ist es wohl ernst. Früher in der DDR wurden Abgänge führender Politiker auch immer mit dem Gesundheit­szustand begründet. Der »Stern« schreibt unter Berufung auf einen »Informante­n«, Gabriel könnte »den Parteivors­itz in den kommenden Wochen hinschmeiß­en. Damit hätte er gleichzeit­ig die Kanzlerkan­didatur aufgegeben.«

Wieder so eine Meldung. Hat man alles schon so oder so gelesen. Oder anders. Aber im Prinzip ist es immer dasselbe. Arbeitsmin­isterin Andrea Nahles soll sich angeblich Hoffnungen auf eine Kandidatur 2021 machen – Motto: Nach der nächsten Gabriel-Pleite ist jedes Ergebnis eine Art Verbesseru­ng. Familienmi­nisterin Manuela Schwesig soll Gabriel angeblich gefragt haben, ob sie es nicht 2017 machen will. Scholz und Schulz sind schon länger Spielkarte­n im medialen SPD-Personal-Mau-Mau. Frank-Walter Steinmeier verwandelt sich schon seit längerem in den gasförmige­n Aggregatzu­stand des ewigen Bundespräs­identenkan­didaten. Thomas Oppermann hat die halbe Bundestags­fraktion gegen sich aufgebrach­t. Ralf Stegner ist es gelungen, zu einem der bundespoli­tischen Gesichter der SPD zu werden, aber mehr so als Sidekick, als Nebenfigur, die in jeder Folge auftaucht aber nie die Hauptrolle spielt. Er ist der Nelson Muntz der deutschen Sozialdemo­kratie: Haa, haa.

Derweil erholt sich der SPD-Chef in seiner Heimatstad­t Goslar. Er schont sich, das muss man sich nicht ausdenken, das schreibt die Nachrichte­nagentur. Am Montag soll die SPD in Berlin in den Wahlkampf starten – mit einer Konferenz zu sozialer Gerechtigk­eit. »Die wichtigste Aufgabe der deutschen und europäisch­en Sozialdemo­kratie ist es, fortschrit­tliche Antworten auf die sozialen Fragen unserer Zeit zu entwickeln«, heißt es in der Einladung. Wenn man sich die Umfragewer­te für die SPD anschaut, sinkt die Zahl der Menschen rapide, die noch die Hoffnung haben, unter Sigmar Gabriel würde es solche Antworten bald geben. Also: nicht nur auf Konferenze­n, in schick aufgemacht­en Papieren. Sondern in der Regierung, wirksam, spürbar. So mit Gesetzen und so.

Das Problem ist: Der Glaube an Gabriel schwindet auch in der SPD. Die Genossen im Unterbezir­k Odenwaldkr­eis haben gerade einen Abwahlantr­ag für den SPD-Vorsitzend­en beschlosse­n. Die Partei stehe momentan »für das Tarifeinhe­itsgesetz, für die Vorratsdat­enspeicher­ung, TTIP und für ein Mittragen der Austerität­spolitik in Europa«, so haben das die Jusos begründet. Die SPD stehe »nicht mehr für das Konzept einer gerechten Gesellscha­ft und hat ihren Kurs seit der Agenda 2010 nicht sinnvoll geändert«. Unter Gabriel, so hört man das immer wieder an der SPD-Basis, »biedert sich« die Partei an die Union an. »Dieser Rechtskurs schlägt auf fatale Weise fehl, denn die Bürgerinne­n und Bürger wollen nicht eine rote Kopie der Union, sie wählen unter diesen Umständen lieber das konservati­ve Original.« Ein Misstrauen­svotum gegen den SPD-Chef.

Und Gabriel ist krank. Es ist nicht so, dass nur ein paar Jusos mit einem Antrag versehentl­ich Erfolg hatten, der dann Schlagzeil­en macht. Mindestens drei Viertel der rund 80 Delegierte­n des Unterbezir­ksparteita­gs haben für die Abwahl von Gabriel gestimmt. »Auch wenn das einmal Wellen schlägt«, wie der Unterbezir­ksvorsitze­nde Oliver Grobeis sagt – das Ergebnis »ist auch der Ausdruck des Gefühls der Basis, dass etwas grundsätzl­ich verbessert werden muss«. Bloß wie? Und unter wem? Was würde denn »grundsätzl­ich verbessert«, wenn Schulz oder Scholz in die erste Reihe treten?

Vor ein paar Wochen bei einem Treffen der SPD-Linken DL21 fiel auch schon das Wort vom Trainer, den man mal austausche­n müsste – schon wegen der psychologi­schen Effekte. Die SPD manövriert sich immer mehr in eine Art Superkrise hinein.

Nicht nur politisch. Es geht auch darum, wie man Partei lebt, wie man mit Nachbarn darüber spricht. Vielen Sozialdemo­kraten ist die SPD peinlich geworden. Sie müssen sich für ihre eigene Organisati­on entschuldi­gen, glauben sie. Sie müssen erklären, warum trotz Mindestloh­n die Umfragewer­te ein historisch­es Tief nach dem anderen erreichen. Sie müssen erklären, was das soll, dass an einem Tag die Rente zum Wahlkampfs­chlager erhoben wird und am nächsten Tag alles wieder anders ist. Die SPD-Mitgliedsc­haft ist zu so etwas wie einer Selbstprüf­ung geworden: Ja, ich gestehe, ich bin dabei. Es klingt wie: Es tut mir leid.

Ralf Stegner sieht gewisserma­ßen schon so aus. Er hat dieses zerknirsch­te, ausdruckss­tarke Gesicht. Ein dauerhafte­s Leiden an der Welt. Gabriel guckt auch so, seit er nicht mehr Pop-Beauftragt­er der SPD ist. Und Stegner ist vom Temperamen­t her ein bisschen wie Gabriel. Noch bevor irgendwer etwas gesagt hat, hat der Vize schon auf Twitter geantworte­t.

Stegner ist ein loyaler Parteisold­at: »Es gab eine Phase, da hat die SPD ihre Vorsitzend­en im Akkord ausgewechs­elt. Gute Erfahrunge­n haben wir damit nicht gemacht«, hat er jetzt gesagt. Es soll bedeuten: Hört auf, an Gabriels Stuhl zu sägen. Stegner will lieber »über Inhalte reden. Gerechte Antworten bei Arbeit, Bil- dung, Gesundheit, Familie und Rente sind für die Menschen wichtiger als Personalde­batten«. Das sagt man eben so, wenn man Politiker ist.

Außerdem schauen die Leute Nachrichte­n und sehen, dass ein Jeremy Corbyn damit erfolgreic­h ist, dass er verspricht, Labour wieder nach links zu steuern. Sie haben die Schlagzeil­en nicht vergessen von diesen gut aussehende­n SYRIZA-Politikern, die es wenigstens einmal mit einem Nein versucht haben. Sie erfahren aus Spanien, dass es kein Naturgeset­zt gibt, das dazu verpflicht­et, in ungeliebte Koalitione­n einzusteig­en, wenn man politisch doch eigentlich etwas anderes will. Sie bekommen mit, dass Politik auch Spaß, vor al- lem Mut machen kann, wenn sie von unten ein bisschen Frischluft­zufuhr bekommt, wie in Frankreich bei Nuit debout. Und sie lesen von Bernie Sanders, der die Leute mit 1a sozialdemo­kratischen Positionen begeistert und dafür, erst abfällig, inzwischen fast schon ein wenig ehrfürchti­g, von deutschen Medien gern »selbsterna­nnter demokratis­cher Sozialist« genannt wird.

Die SPD hat nicht einmal einen selbsterna­nnten demokratis­chen Sozialiste­n. Jedenfalls nicht in der ersten Reihe. Wie soll sie da »fortschrit­tliche Antworten auf die sozialen Fragen unserer Zeit« finden? Sigmar Gabriel sitzt in Goslar und denkt sicher darüber nach. Irgendwann werden sie auf irgendeine­r SPD-Ebene noch einmal über den Antrag aus dem Odenwaldkr­eis abstimmen. Kann sein, dass Gabriel vorher hingeschmi­ssen hat. Muss aber nicht. Vor ein paar Tagen wurde gemeldet, dass er seinen Sprecher und Vertrauten ins Willy-Brandt-Haus zurückgesc­hickt hat. Dort soll Tobias Dünow eine neue Stelle übernehmen – die des Leiters Kommunikat­ion. Gabriel kurz vor dem Hinschmeiß­en? Wer so etwas tut, bereitet sich auf seinen Wahlkampf vor.

Natürlich ist Politik nicht nur eine Frage von Personen. Ob Sigmar Gabriel die SPD führt ist nur zum Teil entscheide­nd. Aber es ist ein wichtiger Teil, weil die Produktion von Glaubwürdi­gkeit im Politgesch­äft wichtig und der Rohstoff dafür knapp ist: persönlich­e Haltung. Dass dieselben Leute jetzt von sozialer Gerechtigk­eit reden, die weder Agenda-Politik noch Neue-Mitte-Kurs und auch nicht die Große Koalition verhindert haben, macht ein schlechtes Gefühl. Man will es glauben. Man kann es nicht. Das piekst im Kopf. Aber Wähler vermeiden gern Schmerzen.

Dass dieselben Leute jetzt von sozialer Gerechtigk­eit reden, die weder Agenda-Politik noch Neue-Mitte-Kurs und auch nicht die Große Koalition verhindert haben, macht ein schlechtes Gefühl.

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Foto: Ostkreuz/Christian Thiel

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