Die verschwundenen Sieger
Fünf Millionen Sowjetsoldaten gelten 71 Jahre nach Kriegsende immer noch als vermisst
Vermisst oder tot? Sieben Jahrzehnte nach Kriegsende bleiben in Russland Millionen Soldatenschicksale ungeklärt. Ein Mann Anfang 30. Ein Lächeln über das ganze runde Gesicht mit dem Schnauzer. Das Foto wurde im Mai 1941 gemacht, es ist das letzte von Wladimir Ignatjew. Einen Monat später bekam er den Gestellungsbefehl: Hitler hatte die Sowjetunion überfallen. Larissa Kolesnikowa ließ das Bild digitalisieren, damit es nicht noch mehr verblasst. Es ist das einzige Andenken an ihren Vater, den sie nie kennenlernte.
Sie denke oft an ihn, sagt die 76Jährige. Besonders am 9. Mai, dem Tag des Sieges. Morgens, bei der Militärparade auf dem Roten Platz, nachmittags, wenn im Fernsehen die alten Kriegsfilme laufen und abends bei der Festtafel. Gefeiert wird bei Wadim, Larissas Schwager. Kriegsauszeichnungen von dessen Vater Igor liegen hinter Glas in der Schleiflack-Vitrine im Wohnzimmer neben Nippes und dem guten Porzellan. Vor 19 Jahren saß der Frontkämpfer der Festtafel selbst ein letztes Mal vor und sprach von dem langen Weg bis nach Berlin 1945. Jetzt erzählen seine Söhne den Urenkeln davon – so reich an Details, als seien sie selbst dabei gewesen.
Larissa Kolesnikowa schaut dann zu Boden und schweigt. Letztes Jahr, zum 70. Jahrestag des Sieges, sagt sie, habe sie sich eingeschlossen, um den Tränen wenigstens für ein paar Minuten freien Lauf lassen zu können. Denn für sie gibt es nichts zu erzählen. Ihr Vater ist – zumindest offiziell – nicht tot, sondern vermisst. So wie fünf Millionen andere Sowjetsoldaten. Wie sie starben und wo, ist 71 Jahre nach Kriegsende noch immer unbekannt.
»Ihr Ehemann ist verschollen.« Larissas Mutter war hochschwanger mit ihr, als Ende 1941 die Nachricht vom Volkskommissariat für Verteidigung in dem Dorf bei Stawropol in Südrussland eintraf, wo die Familie Ignatjew lebte. Immer wieder, sagt Larissa, habe die Mutter das Papier gelesen. Es hat keinen Trauerrand wie eine Todesnachricht und fachte immer wieder die Hoffnung auf ein Wunder an.
Kein Einzelfall. Eine Greisin im Gebiet Brjansk harrte selbst nach der Jahrtausendwende in einem Erdbunker in der Nähe des Dorfes aus, das die Bewohner 1986 nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl verlassen mussten. Dort, sagte sie einem Fernsehteam, werde ihr Liebster, der seit 1942 vermisst wird, sie suchen. Er wisse ja nicht, dass das Dorf aufgegeben wurde. Und zurückkommen werde er. Irgendwie, irgendwann.
Einen Suchantrag haben weder die alte Frau in den Wäldern noch Larissas Mutter je gestellt. Noch lange nach Kriegsende, sagt Larissa, galten Vermisste als potenzielle Überläufer und damit als Verräter. »Sowjetsoldaten lassen sich nicht gefangen nehmen, sie geben sich selbst die letzte Kugel im Magazin.« So ungefähr habe Stalin das mal gesagt.
Die meisten Vermisstenmeldungen stammen aus den ersten beiden Kriegsjahren. Dass die Zahlen seit 1943 merklich zurückgingen, habe mit der Wende des Krieges durch die Schlacht bei Stalingrad indes nichts zu tun, glauben Experten. Kommandeure hätten einfach Angst gehabt, wegen Deserteuren selbst vor das Kriegsgericht zu kommen und Vermisste als Gefallene gemeldet.
Natürlich, sagt Militärhistoriker Michail Tscherepanow, habe es auch Fahnenflucht gegeben. Aber das seien Ausnahmen gewesen. Er hat die gut dokumentierten Daten aus einem Landkreis in der Teilrepublik Tatarstan ausgewertet und kam bei 2500 Vermissten auf gerade einmal 16 Überläufer. »Setzt man das zu den fünf Millionen Vermissten unionsweit ins Verhältnis, kommt man auf höchstens 200 000 Verräter. Das ist kein Grund, die übergroße Mehrheit Anständiger zu stigmatisieren.«
Unabhängige Historiker, Veteranenverbände, Organisationen der Zivilgesellschaft und Hobbyforscher, die auf einstigen Schlachtfeldern Westrusslands noch immer Dutzende Leichen unbestatteter Sowjetsoldaten finden, bemühen sich seit langem um Gerechtigkeit. Vermisste, die »die Ehre der Heimat nicht befleckt haben«, müssten als Gefallene anerkannt werden, heißt es immer wieder in Schreiben an Präsident Wladimir Putin, Regierungschef Dmitri Medwedew und das Verteidigungsministerium. Die Antwort ist bislang immer die gleiche: Ihr Vorschlag verdient Unterstützung, die zuständigen zentralen Organe werden sich damit befassen.
Passiert sei bisher nichts, klagen Journalisten der kritischen »Nowaja Gaseta«. Sie vermuten drohende Kosten als wahren Grund der Zögerlichkeit. Denn Mutter Heimat verweigert Vermissten nicht nur ein ehrendes Angedenken, sie zahlt auch den Hinterbliebenen nur ein Bruchteil dessen, was Familien bekommen, deren Ernährer offiziell als gefallen gilt. Familien Vermisster stehen auch nicht auf der Prioritätenliste für Versorgung mit Wohnraum. Die Regierung hat sie trotz wiederholter Abmahnung durch Putin nicht einmal für ehemalige Frontkämpfer und Partisanen restlos abgearbeitet. Noch immer gebe es 10 000 Anspruchsberechtigte, räumte Medwedew kurz vor dem Siegestag ein.
Laut Gesetz werden bei bewaffneten Auseinandersetzungen Vermisste inzwischen zwei Jahre nach Ende der Kampfhandlungen per Gerichtsbeschluss als gefallen anerkannt. Doch Hinterbliebene müssen einen Berg von Dokumenten beibringen. Familien von Verschollenen des Großen Vaterländischen Krieges haben da schlechte Aussichten und keine Zeit mehr: Witwen vermisster Soldaten sind kaum noch am Leben, Waisen inzwischen hochbetagt – im Durchschnitt 80 Jahre alt.