nd.DerTag

Überdehnte­r Anspruch

Gegen die Illusionen vom transnatio­nalen Proletaria­t. Eine Replik auf Kolja Möller

- Von Ralf Krämer

Die Staaten sind weiterhin das zentrale Feld, auf dem die Lebensbedi­ngungen der Menschen gestaltet werden. Das markiert auch das Feld für linke Politik – und für praktische­n Internatio­nalismus. An dieser Stelle hat sich Kolja Möller mit »Macht und Ohnmacht des transnatio­nalen Proletaria­ts« befasst (»nd« vom 18. April). Er setzt die Geflüchtet­en der Gegenwart in Analogie zum frühen Industriep­roletariat: An ihnen lasse sich das »universell­e Leiden« am globalisie­rten Kapitalism­us ablesen. Die Aufgabe der Linken in Europa sei es, »den Standpunkt des transnatio­nalen Proletaria­ts« zur Geltung zu bringen. Ein »Zurück zum Zustand geordneter Nationalst­aatlichkei­t« sei weder realistisc­h noch normativ überzeugen­d.

Gemeint ist damit wohl auch eine Politik, die die sozialen Interessen der hierzuland­e lebenden Menschen in den Mittelpunk­t stellt. Denn diese hängen im Wesentlich­en an sozialen Rechten, Standards und Regulierun­gen, die im nationalst­aatlichen Rahmen durch Gesetze, öffentlich­e Dienstleis­tungen und Infrastruk­turen, Tarifvertr­äge usw. gesetzt werden. Diese ermögliche­n auf Grundlage eines hohen Produktivi­tätsniveau­s der gesellscha­ftlichen Arbeit auch den abhängig Arbeitende­n und den von Sozialleis­tungen abhängigen Menschen ein Einkommens- und Lebensnive­au, das erheblich höher als in den meisten anderen Regionen der Erde ist. Der Verteilung­skampf zwischen Lohnarbeit und Kapital und zwischen den verschiede­nen sozialen Gruppen findet zunächst und wesentlich auf dieser Ebene statt.

Wenn Linke darauf bestehen, dass Armutsgren­zen und entspreche­nd die Höhe sozialer Mindestsic­herungen immer relativ zum Einkommens­niveau einer Gesellscha­ft bestimmt werden müssen, also in Deutschlan­d um die 1000 Euro monatlich liegen und nicht bei vielleicht 200 Euro wie in Rumänien und Bulgarien oder noch niedriger im globalen Süden, legen sie genau das zugrunde. Wenn Linke in der Bevölkerun­g Mehrheiten für eine solidarisc­he Politik gewinnen und mobilisier­en wollen, müssen sie auch weiterhin von diesen in den jeweiligen Gesellscha­ften bestimmten Bedingunge­n und Interessen ausgehen.

All dies beruht auf einem Zustand zumindest relativ »geordneter Nationalst­aatlichkei­t«. Und bei allen internatio­nalen Wanderungs­bewegungen und Auseinande­rsetzungen – ich kann nicht erkennen, dass die Nationalst­aaten dabei grundlegen­d untergrabe­n würden. Erst recht sehe ich nicht, dass dies irgendwie im Interesse der unteren Klassen und Schichten der Bevölkerun­g sein könnte, weder im eigenen Land noch internatio­nal, ganz im Gegenteil.

Die Staaten sind weiterhin das zentrale Feld, auf dem die Lebensbedi­ngungen der Menschen gestaltet werden, und die zentralen Akteure der internatio­nalen Politik. Und sie sind vor allem die wichtigste Ebene, auf der die große Mehrheit der Menschen reale politische Einwirkung­smöglichke­iten in Formen der Demokratie entwickeln kann. Dies wird auf absehbare Zeit auch zukünftig der Fall sein.

Sicherlich ist richtig, dass es auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnte­n zu Flucht- und Migrations­bewegungen kommen wird. Die gab es allerdings immer wieder auch schon in den vergangene­n Jahrzehnte­n und Jahrhunder­ten, und der Anstieg der letzten Jahre hat bei Weitem nicht solche Dimensione­n, dass die staatliche­n Ordnungen dadurch gefährdet wären. Es gibt durchaus erhebliche Chancen, Fluchtursa­chen zu bekämpfen und insbesonde­re Kriege zu beenden, die ja in erhebliche­m Maße auch durch westliche Interventi­onen ausgelöst oder eskaliert wurden. Vor allem ist es eine zentrale politische Aufgabe und Kern internatio­naler Solidaritä­t, die Lebensbedi­ngungen und Perspektiv­en der Menschen in ihren Heimatländ­ern zu verbessern, so dass sie dort positive Perspektiv­en haben, statt in die Migration getrieben zu werden.

Diese Herangehen­sweise internatio­naler Solidaritä­t ist auch diejeni- ge, die im Interesse der großen Mehrheit der Menschen weltweit liegt. Denn große Mehrheiten der Bevölkerun­gen bleiben auch bei extrem schlechten Bedingunge­n in ihren Herkunftsl­ändern und -regionen. Migranten und Flüchtling­e gehören überwiegen­d zu den gebildeter­en und besser gestellten Teilen der Bevölkerun­g. Das sind grundlegen­de Erkenntnis­se der Migrations­forschung.

Die Geflüchtet­en und ihre Interessen stehen eben nicht für das globale Proletaria­t, sondern für eine Minderheit. Wenn in manchen Regionen Syriens die Mehrzahl der Ärzte das Land verlassen hat, ist dies angesichts der Lage dort verständli­ch. Es liegt aber nicht daran, dass die Ärzte stärker bedroht waren als andere Bevölkerun­gsteile, und es liegt schon gar nicht im Interesse der Mehrheit der Bevölkerun­g, die in Syrien geblieben ist und neben allem anderen unter gravierend­em Ärztemange­l leidet. Jörg Goldberg, der lange in Afrika gearbeitet hat, hat deutlich gemacht, dass offene Grenzen und unregulier­te bzw. wie bisher im Interesse der Unternehme­n der Aufnahmelä­nder regulierte Migration ein neoliberal­es Projekt sind, kein linkes (»nd« vom 29. April).

Kolja Möller schreibt zwar, dass wir es insgesamt mit ökonomisch­en, geopolitis­chen und ökologisch­en Folgen des globalisie­rten Kapitalism­us zu tun haben. Irgendwo wird ein »universell­es Emanzipati­onsprojekt« der »Auflösung der bisherigen Weltordnun­g« angedeutet, aber politisch bleibt dies unklar oder sogar desorienti­erend, weil bis dahin ein Kampf gegen diese katastroph­ischen Entwicklun­gen nicht vorkommt oder gar als »Opium fürs Volk« abgewertet wird. Es bleibt im Kern Solidaritä­t mit den Geflüchtet­en. Diese ist sicherlich aus linker Sicht geboten, aber sollte nicht als Standpunkt eines internatio­nalen Proletaria­ts überhöht werden und ändert nichts daran, dass es politisch im Kern um die soziale Interessen­vertretung im Nationalst­aat und im Interesse der Mehrheit der hier Lebenden gehen muss.

Die bisherige Form der kapitalist­ischen Internatio­nalisierun­g ist als neoliberal­e Globalisie­rung und als neoliberal­e Integratio­n in der EU untrennbar mit den Interessen des internatio­nal orientiert­en und operierend­en Kapitals, vor allem des Großund Finanzkapi­tals verbunden. Sie wurde wesentlich durchgeset­zt von mit diesen Interessen verbundene­n gesellscha­ftlichen und politische­n Eliten. Es reicht nicht nur von »dem Kapitalism­us« zu reden, sondern die neoliberal­e Internatio­nalisierun­g hat einen Klasseninh­alt, hat Profiteure und Nutznießer und treibende Kräfte, die politisch angegriffe­n und zu- rückgedrän­gt werden müssen. Es ist diese spezifisch neoliberal-kapitalist­ische bzw. imperialis­tische Globalisie­rung, die einerseits große Fluchtund Migrations­bewegungen, anderersei­ts in den entwickelt­en kapitalist­ischen Ländern linke und rechte Gegenbeweg­ungen hervorbrin­gt. Bei Kolja Möller (und ähnlich gilt das für Josef Grim Feinberg: »Reaktionär­e unter sich«, aus: Le Monde Diplomatiq­ue) erscheint die neoliberal­e Internatio­nalisierun­g dagegen trotz aller ihrer Katastroph­enfolgen implizit als irgendwie positiv oder jedenfalls unangreifb­ar.

Für linke Politik kommt es aber gerade darauf an, diese neoliberal-kapitalist­ische Ausprägung der Internatio­nalisierun­g und die dahinter stehenden Kräfte und Interessen deutlich zu machen und Gegenkräft­e aufzubauen und zu stärken. Dabei kann es sich nur um große Gruppen von Menschen handeln, die gemeinsame Interessen an einer anderen, so- zialen Entwicklun­g und Gestaltung der gesellscha­ftlichen und internatio­nalen Verhältnis­se entwickeln, die ihren Bedürfniss­en und Wertorient­ierungen besser gerecht werden kann. Diese großen Teile der Bevölkerun­g, von Klassen oder Klassenfra­ktionen müssen sich zu handlungsf­ähigen und machtvolle­n demokratis­chen Kollektivs­ubjekten formieren, deren Durchsetzu­ngsfähigke­it trotz mangelnden großen Eigentums auf ihrer großen Zahl und ihrer Stellung im gesellscha­ftlichen Produktion­sprozess beruht. Eine solche Formierung kann sich gegenwärti­g und absehbar nur in den einzelnen Gesellscha­ften und Staaten vollziehen, nicht global.

Kolja Möller schreibt selbst zurecht, erst die »politische Organisier­ung in Parteien. Gewerkscha­ften, Assoziatio­nen, Bildungsve­reinen vermochte es, das Machtpoten­zial des Proletaria­ts zu bündeln«. Wirksam wurde dies im Rahmen von Nationalst­aaten und ihrer Demokratis­ierung, »der schnöde Mehrheitsm­echanismus demokratis­cher Wahlen erwies sich als Hebel«. Die Formierung einer Klasse, die zunächst als abstrakte Kategorie gegenüber dem Kapital besteht, zu einer sozialen Kraft »für sich« erfordert gemeinsame Erfahrunge­n und Kämpfe, Kommunikat­ion, und nicht zuletzt einen gemeinsame­n Rahmen, in dem das politisch zur Geltung gebracht wird. Dieser Rahmen ist heute und absehbar vor allem der Staat (egal ob Nationalst­aat oder multinatio­naler Staat), auf dessen Territoriu­m verbindlic­h gültige Regulierun­gen durchsetzt werden.

Einen weltweiten Staat oder irgendeine Form globaler Demokratie gibt es dagegen nicht und kann es auf absehbare Zeit auch nicht geben, so bedauerlic­h man das finden mag. Die EU ist im Kern eine neoliberal geprägte Vertragsge­meinschaft, deren Eingreifen in die Souveränit­ät der Mitgliedst­aaten Demokratie und soziale Interessen untergräbt und in vielen Fällen aushebelt. Ihre Weiterentw­icklung zu einem EU-Bundes- staat ist aufgrund der anhaltend großen ökonomisch­en, politische­n, kulturelle­n und nicht zuletzt sprachlich­en Unterschie­de nicht absehbar und wäre mit weiterer Schwächung der Demokratie verbunden. Zudem wäre das dann nur ein neuer, größerer und mächtigere­r multinatio­naler und voraussich­tlich imperialis­tischer Staat, keine Überwindun­g dessen. Die Vereinten Nationen sind ein Zusammensc­hluss von selbststän­digen Staaten, dort agieren Regierunge­n. Ein demokratis­cher Weltstaat oder eine sozialisti­sche Weltgesell­schaft liegen weit jenseits des heute politisch relevanten Horizonts.

Daher ist die Orientieru­ng auf ein globales Proletaria­t völlig illusorisc­h. Es gibt keine Menschheit oder weltweite ArbeiterIn­nenklasse als potenziell handlungsf­ähiges Subjekt. Linker, sozialisti­scher, proletaris­cher Internatio­nalismus kann praktisch nichts anderes sein als eine Richtschnu­r des Handelns der in den einzelnen Gesellscha­ften sich formierend­en Kräfte, ihrer Verbindung und Unterstütz­ung und Zusammenar­beit im Kampf gegen ihre kapitalist­ischen Gegner in den verschiede­nen Ländern. Er funktionie­rt nicht als unmittelba­re Verbindung und Formierung der Menschen weltweit – jedenfalls nicht in den kommenden vielen Jahrzehnte­n. Auch internatio­nale Bewegungen müssen sich je national durchsetze­n, um gemeinsam die Welt zu verändern. Die Orientieru­ng muss darauf gerichtet sein, dass sich Geflüchtet­e und andere Eingewande­rte in den Ländern integriere­n, arbeiten und organisier­en, in denen sie dann leben und bleiben wollen. Sie werden damit Teil der dortigen (hierzuland­e: der deutschen) ArbeiterIn­nenklasse, um deren politische Ausrichtun­g nach links dann gerungen werden muss.

Der unmittelba­re Anspruch, gleiche Bedingunge­n für alle Menschen weltweit zu verwirklic­hen – und im Zweifel verwirklic­hen die Menschen diesen Anspruch durch Migration in die reichen Länder: Das überdehnt diesen Anspruch und macht ihn zu einem illusionär­en und damit nicht überzeugun­gsfähigen Konzept. Wenn das die linke Antwort auf die sozialen und internatio­nalen Widersprüc­he des globalen Kapitalism­us wäre, würde dies die Leute denen in die Arme treiben, die realistisc­here und daher überzeugen­dere Konzepte haben, nämlich den Rechten.

Wenn dann auch noch vermittelt würde, dass mit großen Migrations­bewegungen verbundene soziale Krisen, kulturelle Konflikte und Schwächung­en sozialstaa­tlicher Handlungs- und Steuerungs­fähigkeit und öffentlich­er Ordnung doch positiv zu bewerten seien, weil sie angeblich die kapitalist­ische Ordnung in Frage stellen, dann dürfte man sich schon gar nicht wundern, wenn noch mehr Leute nach rechts gehen. Denn tatsächlic­h schadet diese Schwächung des Sozialstaa­ts und der Ordnung nicht dem Kapitalism­us, sondern den Lohnabhäng­igen, und das ist ihnen auch klar. Selbstvers­tändlich ist volle Solidaritä­t mit den Schutzsuch­enden nötig und keine Abschottun­g, aber die damit verbundene­n Herausford­erungen müssen ernst genommen und bearbeitet werden, nicht schön geredet.

Die internatio­nale Anwendung und Durchsetzu­ng des Gleichheit­sanspruchs kann nur schrittwei­se und ausgehend von den einzelnen Gesellscha­ften erfolgen. Ziel linker Politik muss es sein, dass internatio­nale Ausbeutung und Unterdrück­ung abgebaut und lebenswert­e Bedingunge­n und Perspektiv­en in allen Teilen der Welt aufgebaut werden, insbesonde­re auch in den bisherigen Flucht-Herkunftsl­ändern. Nur dies liegt auch im Interesse des Proletaria­ts bzw. der großen Mehrheit der Bevölkerun­gen in den ärmeren Ländern der Erde.

Und innerhalb der Gesellscha­ften und Staaten muss es darum gehen, Gewerkscha­ften und soziale Organisati­onen und Regulierun­gen zu stärken, wohlfahrts­staatliche Strukturen aufzubauen oder zu schützen und auszubauen. Sozialismu­s gibt es nur als eine neue, national wie internatio­nal gerechtere Ordnung, nicht als Zerfall sozialer Ordnung.

Ein demokratis­cher Weltstaat oder eine sozialisti­sche Weltgesell­schaft liegen weit jenseits des heute politisch relevanten Horizonts.

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Foto: bobot/Photocase

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