nd.DerTag

Nachrufe

- Von Gabriele Oertel

Da

hatte die Boulevardp­resse am Wochenende aber ein richtiges Fest. Beobachtun­gen auf dem Friedhof in Santiago de Chile – inklusive des Durchzähle­ns der Trauergäst­e, der Suche nach den Tränen auf den Gesichtern, den detaillier­ten Sargbeschr­eibungen. Der Tod der langjährig­en DDRVolksbi­ldungsmini­sterin Margot Honecker am Freitag und die samstäglic­he Trauerfeie­r im fernen Chile forderten die Kreativitä­t der journalist­ischen Beobachter jedenfalls nach 26 Jahren in Sachen DDR-»Aufarbeitu­ng« erneut so richtig heraus. Dass die meisten derer, die nach dem Tod der 89Jährigen schnell von ihren Redaktione­n in die Spur geschickt worden waren, sich mühsam den Lebenslauf erarbeiten mussten – Arbeiterki­nd aus Halle, seit 1945 Mitglied der KPD, ab 1948 Vorsitzend­e der Pionierorg­anisation »Ernst Thälmann«, Ministerin von 1963 bis zur Wende 1989, Odyssee zwischen einer Pfarrei in Lobetal, einem kurzen Exil in Moskau und der Endstation Chile – , tat den zu Papier gebrachten Gewissheit­en über ein ganz und gar falsches Leben keinen Abbruch.

Von der »lila Hexe« ist da die Rede, von einer »bösen und verstockte­n Frau«, von der »starrsinni­gen Witwe« des einstigen Parteiund Staatschef­s Erich Honecker. Es versteht sich von selbst, dass sich in die Liste der besonders vernichten­den »Nachrufe« durchaus auch Zeitzeugen reihten – die allerdings ihr Wissen um den »silbernen Browning« in der Handtasche der DDR-Spitzenfra­u, das Einkaufsge­baren im »Wandlitzer Konsumpara­dies« und diverse Fremdgehge­rüchte bis in den Herbst 1989 tief in ihrem Innern verborgen gehalten hatten.

Aber ob Opportunis­mus oder Schnellsch­üsse – ein gerechtes Urteil über jene Frau, die das DDRBildung­ssystem mit all seinen internatio­nal anerkannte­n Leistungen wie seinen herben Fehlleistu­ngen über mehr als 25 Jahre dominierte, wird so nicht zu treffen sein. Was wann und warum auch mit Margot Honecker passiert ist, dass aus dem Aufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg, Hoffnungen auf eine gerechtere Gesellscha­ft, Bildungsch­ancen auch für einfache Leute jene ideologisc­hen Grabenkämp­fe, Gängeleien und Zwangsmaßn­ahmen entstanden, die viele DDR-Bürger Ende der 80er Jahre nicht mehr dulden wollten, wird die Historiker noch Jahrzehnte beschäftig­en. Und manchen von uns, der sich in je- nen wilden Wendezeite­n allen Widrigkeit­en zum Trotz lieber eine bessere DDR als den real existieren­den Kapitalism­us erträumte.

Man kann Margot Honecker nicht verübeln, dass sie einem Land, in dem ihr zuletzt ein Dach über dem Kopf verwehrt worden war, für immer den Rücken kehrte. Dass sie sich aber – wie fast alle, die Verantwort­ung für den misslungen­en Versuch der kleinen deutschen Republik mit dem großen Anspruch hatten – 25 Jahre lang bis auf ein paar Beharrungs­floskeln und Frust jeglicher Form von Spurensuch­e nach dem Scheitern verweigert hat, muss man ihr denn doch zum Vorwurf machen.

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Foto: dpa/Frank Schumann

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