Kein Zuhause und keine Zukunft
René Pollesch erkundet in »I love you, but I’ve chosen Entdramatisierung« die Einsamkeit zeitgenössischer Mitwesen
Am Anfang ist Kathrin Angerer. Mit ihrem so unvergleichlich staunenden Blick und der Stimme, die weich und hart zugleich sein und das Nymphen- wie das Gossenfach ausreizen kann, breitet sie sich über die Abwesenheit von Zuhause aus. Nicht bei ihr, nicht bei ihrer Figur, zunächst jedenfalls nicht, aber doch bei ihrem Gegenüber. »So was sagt meinem Gegenüber gar nichts, das Zuhause als relevanter Lebensraum«, sagt sie – und fühlt sich gleich angesteckt von dieser Art des Unbehaustseins.
Über weite Teile des Abends agiert dann das Darstellerquartett (neben Angerer noch Inga Busch, Samuel Schneider und Trystan Pütter) dieses Nicht-Behaustsein aus. Mal rennen sie wild durch die drei Wagen der Rollenden Roadshow der Volksbühne, die auf seltsam unbeholfene Art an der Längsseite des Zuschauerraums geparkt sind. Mal flitzen sie auch hoch zur Neonwand im Rang. Oder sie sedieren sich mit dem Rauch der Marihuana-Pflanze. Momente des Zu-sichKommens haben sie aber nur in Übergangsphasen, dann, wenn sie von Punkt A gestartet und an Punkt B noch nicht angekommen sind. Oder dann, wenn sie vergessen haben, was sie su- chen und im Hin- und Her-Eilen sich plötzlich aufgehoben wissen.
Doch diese Momente halten nicht lange vor. Also lässt Pollesch, der vom Erforscher der Deformationen, die der Kapitalismus am Einzelnen ausübt, zu einem Seelenerforscher geworden ist, der das Mode gewordene kapitalismuskritische Narrativ nicht mehr als Geländer und Sicherheitsgurt braucht, seine Protagonisten nach anderen Praktiken suchen, um sich selbst zu finden, um sich in Kommunikation zu verstricken, die noch etwas bedeutet. Er führt Beschimpfungsrituale ein, die er als Anleihen einer westafrikani- schen Kultur des 13. Jahrhunderts deklariert. Feinde sollen damals aufgefordert worden sein, sich erst so zu beschimpfen, dass sie sich vor Lachen krümmen – und danach zu entscheiden, ob sie sich noch bekriegen wollen. So seien damals Großreiche entstanden, behauptet der Pollesch-Text.
Doch das Experiment in der Volksbühne schlägt fehl. Die Beschimpfungen sind nicht so »virtuos« wie gefordert. Befreiung setzt nicht ein, nur kleinliche Beleidigung. Und erneuter Rückzug in die Rauchschwaden des Marihuanas, in die Fluchten aus den und durch die Wagen. Als Neben- thema wird noch die Zukunft eingeflochten. Auch sie als Fehlstelle. Im Gegensatz zum »No Future« der PunkGeneration der 80er Jahre, die diese Negation noch als Angriff und Vorwurf formulieren konnte, ist jetzt mit der abwesenden Zukunft nicht einmal ein Jammern verbunden, sondern nur ein banales Konstatieren.
Polleschs Figuren haben keine Vergangenheit mehr, und keine Zukunft. Sie haben nur ein belangloses Jetzt, als in den Wagen gestrandete Zirkusarbeiter, die den Zirkus auch schon vergessen haben, und sich hin und wieder gedankenlos in Glitzerklamotten werfen.
Ohne ein einziges Mal explizit auf die Ortlosigkeit digitaler Welten verweisen zu müssen, ohne jemals von »Daten«, »Smartphones« oder »Social Media« reden zu müssen, gelingt es Polleschs Text, genau diese Atmosphäre herzustellen. Und wenn bei der Premiere die Spielerinnen Angerer und Busch auch etwas mehr Konzentration aufgebracht und sich dauerhaft souverän im Text bewegt hätten, dann hätte dem Abend etwas Großartiges innewohnen können. So hüpfte der betrachtende Geist nur von einem Textpartikel zu einem anderen, erfreute sich zuweilen an der Gedankenschnelligkeit der beiden männlichen Darsteller und gewahrte mit Grausen, welche Lücke doch Bert Neumann gerissen hat. Zwar wurde das Bühnenbild nach Ideen des im letzten Jahr verstorbenen Meisters des gestalteten Raums entwickelt. Aber so beziehungslos hätte er die drei Wagen sicher nicht im Raum platziert. Das schreckliche Durcheinander von schwarzen Sitzkissen und weißen Plastikstühlen im Parkett hätte er bestimmt auch vermieden – und für diese Intimitätsschau vor allem nicht die unseligen Fernpositionen auf dem Rang zugelassen. Wer ein Theatererlebnis haben möchte, sollte noch warten, bis sich die Sache einspielt und die Volksbühne ein paar der ganz schlechten Entscheidungen bezüglich des Bühnen- und Zuschauerraums wieder korrigiert hat.
Es war nur ein ironischer Trost, dass der Abend mit Preview-Bildern von Polleschs neuem Film »Bad Decisions« beendet wurde. Diese Sequenzen der »schlechten Entscheidungen« immerhin machten Lust auf mehr. Pollesch, so zeigt sich, hat sich vom Turbokritiker neokapitalistischer Verhältnisse zum Menschenbeobachter gewandelt; bei ihm ist das kein Eskapismus, sondern eine neue Qualität. Schade nur, dass er bei dieser Wandlung ein wenig allein gelassen wurde. Nächste Vorstellungen am 3. und 16.6.