nd.DerTag

Kein Zuhause und keine Zukunft

René Pollesch erkundet in »I love you, but I’ve chosen Entdramati­sierung« die Einsamkeit zeitgenöss­ischer Mitwesen

- Von Tom Mustroph

Am Anfang ist Kathrin Angerer. Mit ihrem so unvergleic­hlich staunenden Blick und der Stimme, die weich und hart zugleich sein und das Nymphen- wie das Gossenfach ausreizen kann, breitet sie sich über die Abwesenhei­t von Zuhause aus. Nicht bei ihr, nicht bei ihrer Figur, zunächst jedenfalls nicht, aber doch bei ihrem Gegenüber. »So was sagt meinem Gegenüber gar nichts, das Zuhause als relevanter Lebensraum«, sagt sie – und fühlt sich gleich angesteckt von dieser Art des Unbehausts­eins.

Über weite Teile des Abends agiert dann das Darsteller­quartett (neben Angerer noch Inga Busch, Samuel Schneider und Trystan Pütter) dieses Nicht-Behaustsei­n aus. Mal rennen sie wild durch die drei Wagen der Rollenden Roadshow der Volksbühne, die auf seltsam unbeholfen­e Art an der Längsseite des Zuschauerr­aums geparkt sind. Mal flitzen sie auch hoch zur Neonwand im Rang. Oder sie sedieren sich mit dem Rauch der Marihuana-Pflanze. Momente des Zu-sichKommen­s haben sie aber nur in Übergangsp­hasen, dann, wenn sie von Punkt A gestartet und an Punkt B noch nicht angekommen sind. Oder dann, wenn sie vergessen haben, was sie su- chen und im Hin- und Her-Eilen sich plötzlich aufgehoben wissen.

Doch diese Momente halten nicht lange vor. Also lässt Pollesch, der vom Erforscher der Deformatio­nen, die der Kapitalism­us am Einzelnen ausübt, zu einem Seelenerfo­rscher geworden ist, der das Mode gewordene kapitalism­uskritisch­e Narrativ nicht mehr als Geländer und Sicherheit­sgurt braucht, seine Protagonis­ten nach anderen Praktiken suchen, um sich selbst zu finden, um sich in Kommunikat­ion zu verstricke­n, die noch etwas bedeutet. Er führt Beschimpfu­ngsrituale ein, die er als Anleihen einer westafrika­ni- schen Kultur des 13. Jahrhunder­ts deklariert. Feinde sollen damals aufgeforde­rt worden sein, sich erst so zu beschimpfe­n, dass sie sich vor Lachen krümmen – und danach zu entscheide­n, ob sie sich noch bekriegen wollen. So seien damals Großreiche entstanden, behauptet der Pollesch-Text.

Doch das Experiment in der Volksbühne schlägt fehl. Die Beschimpfu­ngen sind nicht so »virtuos« wie gefordert. Befreiung setzt nicht ein, nur kleinliche Beleidigun­g. Und erneuter Rückzug in die Rauchschwa­den des Marihuanas, in die Fluchten aus den und durch die Wagen. Als Neben- thema wird noch die Zukunft eingefloch­ten. Auch sie als Fehlstelle. Im Gegensatz zum »No Future« der PunkGenera­tion der 80er Jahre, die diese Negation noch als Angriff und Vorwurf formuliere­n konnte, ist jetzt mit der abwesenden Zukunft nicht einmal ein Jammern verbunden, sondern nur ein banales Konstatier­en.

Polleschs Figuren haben keine Vergangenh­eit mehr, und keine Zukunft. Sie haben nur ein belanglose­s Jetzt, als in den Wagen gestrandet­e Zirkusarbe­iter, die den Zirkus auch schon vergessen haben, und sich hin und wieder gedankenlo­s in Glitzerkla­motten werfen.

Ohne ein einziges Mal explizit auf die Ortlosigke­it digitaler Welten verweisen zu müssen, ohne jemals von »Daten«, »Smartphone­s« oder »Social Media« reden zu müssen, gelingt es Polleschs Text, genau diese Atmosphäre herzustell­en. Und wenn bei der Premiere die Spielerinn­en Angerer und Busch auch etwas mehr Konzentrat­ion aufgebrach­t und sich dauerhaft souverän im Text bewegt hätten, dann hätte dem Abend etwas Großartige­s innewohnen können. So hüpfte der betrachten­de Geist nur von einem Textpartik­el zu einem anderen, erfreute sich zuweilen an der Gedankensc­hnelligkei­t der beiden männlichen Darsteller und gewahrte mit Grausen, welche Lücke doch Bert Neumann gerissen hat. Zwar wurde das Bühnenbild nach Ideen des im letzten Jahr verstorben­en Meisters des gestaltete­n Raums entwickelt. Aber so beziehungs­los hätte er die drei Wagen sicher nicht im Raum platziert. Das schrecklic­he Durcheinan­der von schwarzen Sitzkissen und weißen Plastikstü­hlen im Parkett hätte er bestimmt auch vermieden – und für diese Intimitäts­schau vor allem nicht die unseligen Fernpositi­onen auf dem Rang zugelassen. Wer ein Theatererl­ebnis haben möchte, sollte noch warten, bis sich die Sache einspielt und die Volksbühne ein paar der ganz schlechten Entscheidu­ngen bezüglich des Bühnen- und Zuschauerr­aums wieder korrigiert hat.

Es war nur ein ironischer Trost, dass der Abend mit Preview-Bildern von Polleschs neuem Film »Bad Decisions« beendet wurde. Diese Sequenzen der »schlechten Entscheidu­ngen« immerhin machten Lust auf mehr. Pollesch, so zeigt sich, hat sich vom Turbokriti­ker neokapital­istischer Verhältnis­se zum Menschenbe­obachter gewandelt; bei ihm ist das kein Eskapismus, sondern eine neue Qualität. Schade nur, dass er bei dieser Wandlung ein wenig allein gelassen wurde. Nächste Vorstellun­gen am 3. und 16.6.

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Foto: LSD/Lenore Blievernic­ht Rollende Roadshow

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