nd.DerTag

Wer denkt an Ghana?

Norbert Blüms »Aufschrei!« gegen die Erbarmungs­losigkeit

- Von Hans-Dieter Schütt

Die bekömmlich­ste politische Bewegung ist jener lebbare Ausgleich zwischen Wohlstand und Wohlfahrt. Der gelernte Werkzeugma­cher Norbert Blüm, unter Kanzler Kohl langjährig­er CDUArbeits­minister, betätigt sich als StauMelder von unterwegs: Der Bestand unserer Gesellscha­ft ist gefährdet durch Stillstand und Irrfahrt. Stillstand der Moral, Irrfahrt der Geldströme. »Aufschrei – wider die erbarmungs­lose Geldgesell­schaft« heißt sein Buch. Ein Pamphlet für Arbeit, für Europa, gegen Krieg, Korruption und religiösen Fanatismus.

Blüm ist Christ, und er hat eine proletaris­che Vergangenh­eit, etwa »als trampender Gastarbeit­er« in der Türkei – woraus sich ihm der Maßstab aufbaute, was Gerechtigk­eit sei: niemanden als niedrig zu betrachten. Statt Geringschä­tzung: das Geringe schätzen. Das Geringe und jeden vermeintli­ch Geringen. Wo man sich fremdes Leid ins eigene Gemüt holt, wächst ein wenig das Bewusstsei­n von der Unteilbark­eit der Welt. Für unser Leben im Westen heißt das: Jeder Nutznießer ist immer auch ein Verantwort­licher. Verantwort­ung fühlen bedeutet: freiwillig­e Selbstbela­stung – und zwar mit den Sorgen derer, de- nen durch Ausbeutung und Ausgrenzun­g die Freude an sich selber abgesproch­en wird.

Blüm ruft nach Besinnung: Gesund ist, wer in heutiger Welt weiterhin der Entzündbar­keit seines Gewissensn­ervs ausgeliefe­rt bleibt. In einer Welt, in der die bittere, böse Frage gilt: Warum soll einer gut sein, auf seine eigenen Kosten? Gutsein ohne Preis lohnt sich nicht. Inzwischen haben wir nichts mehr, was uns zurückhält: Mitteleuro­päische Bankiers verwalten blutbeflec­ktes Geld ausländisc­her Diktatoren, unsere Wirtschaft profitiert vom Blut- und Waffengeld – und wir sind natürlich trotzdem tapfer Demokraten. Das heißt leider nur: Wir nehmen aktiv unsere Rolle als Lorbeerbäu­me neben den Rednerpult­en wahr. Also geht es uns gut – ohne dass wir gut sein müssen. Diese Wahrheit, die uns so schön satt macht, ist elend. Wir schlucken das. Und schreien dennoch auf, wie Blüm. Wir sind Artisten: Bauchredne­r der modernen Art. Schreien und Schlucken gleichzeit­ig. Das geht. Wie lange gut? »Der Euro ist jedenfalls kein Wegweiser zur Seele Europas.«

So verzweifel­t ist die Lage. So verzweifel­t ist Blüm – verzweifel­t über einen gesellscha­ftlichen Umgang, der von den Verwaltern des Leistungsp­rinzips bestimmt wird. Die den Menschen dazu treiben, sein ethisches Verhalten firmenabhä­ngig und aufstiegsg­ebunden zu betreiben. Blüm nennt Namen und zielt aufs Ganze, für das sie stehen: »Ich kann mir Winterkorn, Ackermann und Blatter nicht als glückliche Menschen vorstellen.« Jeder dehnt das Gesetz, bis es seufzt. Vielleicht bewirkt dies, dass Mächtige und Fleißige und Ehrgeizige, kurz: die hauptsächl­ichen Macher, inzwischen alle ein wenig so aussehen, als drohte ihnen unmittelba­r die Entlarvung. Und wir, der folgsame Rest, der sieht aus wie jemand, an dessen Entlarvung bislang nur noch niemand interessie­rt war.

Die Riesterren­te nennt er »Solidaritä­t für Geisterfah­rer«. Für die poli- tische Auseinande­rsetzung wünscht er sich »wieder Wahlkämpfe, in denen es um Richtungse­ntscheidun­gen geht: etwa zwischen Europa und dem Nationalst­aat«. Und die so sehr grassieren­de »reine Innerlichk­eit« beim Nachdenken über die Welt – es ist für ihn »eine Art der getarnten Feigheit«. Lieber spricht er von »Klassenkäm­pfen« und beklagt deren nationale Enge: »Ich habe noch keinen Streik von ver.di etwa für Kaffeebaue­r in Ghana erlebt.« Ungarn, Polen? »Ihr Lebenstrau­m war Freizügigk­eit, jetzt sind sie die nationalen Türschließ­er vor dem Andrang der Bedrängten.«

Die Deutschen, so Blüm, hatten nie eine glückvolle Beziehung zum Umsturz. Das änderte sich mit der friedliche­n Revolution im Osten, 1989 – deren Haupttrieb­kraft, wie die Idealisten einsehen mussten, nicht Freiheit schlechthi­n und schon gar nicht Freiheit unter geänderten sozialisti­schen Vorzeichen war, sondern, letztlich und bestimmend: »westliche Freiheit«. Für Blüm so etwas wie ein Verpflicht­ungseid zu europäisch­er Vaterlands­liebe – er offenbart deutsches Selbstbewu­sstsein, aber: gespeist ganz aus integrativ­er Lust. Er redet Klartext über kalte Zustände, aber er leidet nicht an jenem Deutschlan­dhass, der wie eine linke Kehrseite der schlagende­n Verbin- dungen wirkt: Korpsgeist zu Korpsgeist – nun ja, auch Sekten haben Existenzre­cht.

Das Buch mag man als einen Rundumschl­ag bezeichnen. Themenspru­del. Blüm selber nennt sein Pamphlet »wild«. Er will im Hinblick auf die Welt Marx vertrauen: »Es kömmt darauf an, sie zu verändern.« Sein Aufschrei ist kein Programm, kein Rezept. Aber man spürt ein betroffene­s Herz. Und er hofft, dass Politiker aller Farben über ihren Schatten springen, aufeinande­r zugehen. Also: voneinande­r lernen, im Verfeindet­en sich selber sehen. Freundlich bleiben bei Schuldzuwe­isungen, denn es könnten die Listen der eigenen Schuld verlesen werden. Das rebellisch­e Gefühl, dass diese Gesellscha­ft verändert werden muss, ist längst kein linkes Privileg mehr. Den opposition­ellen Auftrag sollten sich in der Demokratie viele Geisteswel­ten teilen.

Gewidmet ist das Buch Angela Merkel. Hommage und List. Ehrbezeugu­ng und Auftragser­teilung. Als solle sie diesen Aufschrei hören – und selber größeren Mut zeigen, angesichts dieser Welt Fassung zu verlieren. Um weiter an zeitgemäße­r Autorität zu gewinnen.

Das rebellisch­e Gefühl, dass diese Gesellscha­ft verändert werden muss, ist längst kein linkes Privileg mehr. Den opposition­ellen Auftrag sollten sich in der Demokratie viele Geisteswel­ten teilen.

Norbert Blüm: Aufschrei! Westend Verlag. 192 S., geb., 18 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany