nd.DerTag

In gewisser Weise ist der grandiose Radrennfah­rer – auf der Bühne gestorben.

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Man stirbt nicht im Mai. Sagte Fontane. Nein, nicht im Mai, nicht im Frühling. Es sei denn, fügte er hinzu, man ist Gärtner – »so sorgt man bis zuletzt für frische Blumen«. Mancher Schauspiel­er mag ja auch davon träumen, auf der Bühne zu sterben, »möglichst an einer Stelle, an der das Publikum denkt: Das Sterben spielt er am besten« (Laurence Olivier). In gewisser Weise ist der grandiose Radrennfah­rer Klaus Ampler, der am 6. Mai starb, auch auf der Bühne gestorben – wenn wir jetzt mal die Zeit zum Raum werden lassen. Denn der Mai war seine schönste Bühne. Der Friedensfa­hrt-Monat. 1963 gewann Ampler die Tour, schlug den Belgier August Verhaegen. Hatte während der Tour eine Panne, Täve Schur, dieser Größte unter den Großen, gab ihm sein Rad, wartete statt des Kameraden auf den Materialwa­gen.

Aus jenen Jahren ist mir immer der hartnäckig­e Hauch von Unschuld geblieben, der vor allem dann wehte, als der moderne Radsport, wie andere Sportarten auch, mehr und mehr zum Betrugsges­chäft wurde. Du brauchst solche Unschuldsv­ermutungen, du musst sie ansammeln in deinem Leben, dein fühlendes Bewusstsei­n hat Halt nötig, sonst brauchst du eines Tages selber zu viele Drogen. Mir will auch scheinen, dass das Wort »Frieden« im Namen der Fahrt damals mitempfund­en wurde, wenn man den »Rittern der Landstraße« zujubelte. Ein Mitempfind­en ohne vorherige Befehlsaus­gabe, ganz ohne die Einflüster­ungen durch den Zeitungsge­ist, nein, ein selbstvers­tändliches Zusammenst­ehen von Sinn und Sinnlichke­it dieser aufregende­n Rennen. Aus den Stadien stiegen Friedensta­uben auf, und vergessen war, dass Manfred »Lack« Weißleder mal zur Luftpumpe gegriffen hatte (1961), um sich der Rempeleien des sowjetisch­en Stars Juri Melichow zu erwehren.

Radfahren ist Befreiung von den Beschränku­ngen der menschlich­en Natur. Wenn Bewegung leicht wird, zeigt sich ihre Schönheit. Es gab unter den Fahrern die Geschmeidi­gen, die geradezu Fließenden (der Pole Szozda!), so, als führen sie auf Schienen und hätten die Schwerkraf­t und die ewig monoton verstreich­ende Zeit baldigst vergessen. Ampler, der Zähe, der Seelenknoc­hige gehörte zu denen, die bei jedem Tritt in die Pedale den Oberkörper mit in die Bewegung warfen. Ein Bolzer aber war er nie.

Es war die wunderbare Zeit, da wir wegen einer Etappenfah­rt durch den kleinen thüringisc­hen Ort die Schule schwänzten, fürs nächste Jahr hatte die Lehrerscha­ft ihre Lektion gelernt: Der Unterricht fiel aus. Leider ging alles viel zu schnell, schade, dass man nicht an der Steilen Wand von Meerane wohnte, wo sich die Fahrer quallangsa­m hinaufbewe­gten – nein, ein Schweif nur, diese Vorbeijagd, so wie Jahre später, als Sigmund Jähn und Wladimir Bykowski durch den Ort fuhren. Aber man war dabei, hatte den Eindruck von Erlebnis, die wenigen Sekunden so sehr tiefer als manches andere Ding im Leben, darin du jahrelang steckst – und so wenig wird sich am Ende eingeprägt haben.

Lese gerade in einer Literaturz­eitschrift, das wichtigste Ereignis im Mai 1963 sei die Kafka-Konferenz in Prag gewesen. Klaus Ampler, der in Prag seine Siegesfahr­t startete, war genau so wichtig. So ist das: Jede Zeit besteht aus vielen Zeiten.

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