Eine Stadt stirbt
Venedig geht unter – im Meer des Massentourismus.
In Venedig die widerständige Blüte der Romantik gegen eine fortschreitende »Monotonisierung der Welt« (Stefan Zweig) zu sehen, hat gewiss einen poetischen Reiz, aber ist auch nicht ganz ehrlich. Denn Venedig hat mit Globalisierung und Kommerz mehr zu tun, als es sich das weltflüchtige Gemüt eingesteht. Da ist Salvatore Settis der Richtige, in dieser vom Wagenbach-Verlag und dem Italienischen Kulturinstitut organisierten Diskussion. Im Gespräch mit dem Autor und Journalisten Lothar Müller soll die Zerstörung unserer urbanen Stadtkultur am Beispiel Venedigs aufgezeigt werden. Settis hat bei Wagenbach im vergangenen Jahr ein Debatten-Buch zu diesem Thema veröffentlicht (»Wenn Venedig stirbt. Streitschrift gegen den Ausverkauf unserer Städte«), das durch seine ebenso unerwartet spröde wie unbestechliche soziologische Argumentation verblüfft.
Natürlich hat sich ein ungehemmter Kommerz längst dieser wie eine zeitlose Blüte seit tausend Jahren auf der Lagune liegenden Stadt bemächtigt. Venedig droht zu einem Produkt des Massentourismus und der Immobilienspekulation zu verkommen. Thomas Mann hat Kultur einmal als die »Selbstnobilitierung des Lebens« bezeichnet – in Venedig vollzieht sich gerade das Gegenteil: der letzte Anschein von Vornehmheit wird der Gier geopfert. Etwa zweitausend Kreuzfahrtschiffe fahren jedes Jahr durch die Lagune, nicht einmal fünfzig Meter vom Markusplatz entfernt. Ein kleiner Steuerfehler und ein dreihundert Meter langes und sechzig Meter hohes Stahl-Ungetüm stürzt direkt auf die Markuskirche.
Per italienischem Gesetz sind zwei Seemeilen Abstand zur Küste vorgeschrieben und ausgerechnet für Venedig gilt das nicht? Es ist ganz offenkundig eine Frage des Geldes. Diese Kreuzfahrtschiffe, so Settis, sind »mobile Städte« mit bis zu dreitausend Einwohnern. Sie verkauften »ein Produkt, das heißt: Ausblick auf Venedig und zwar ganz aus der Nähe. Das sind die neue Formen von Parallelgesellschaft, denn die Millionen von so durch die Lagune geschleusten Touristen machen zwar Fotos im Vorbeifahren, haben aber keinerlei Beziehung mehr zur Stadt, nicht einmal die des geführten Rundgangs. Das ist die perfekte Verwertungsmaschine – und weil sie so gut läuft, überlegt man, noch mehr Geld herauszuholen, etwa einen Hochhausring in der aufgeschütteten Lagune um die Stadt zu bauen. Irgendjemand wird sich schon finden, der bereit ist, derartige Projekte als sinnvoll gegen das drohende Hochwasser zu preisen. Die Silhouette der Stadt wäre damit zerstört – aber längst nicht nur die.
Settis führt die Einwohnerzahlen Venedigs an: 1540 waren es 129 000, 1951 war der Gipfelpunkt mit 174 000 erreicht – heute sind es noch 56 000. Wie kann das sein? Das was eine Stadt lebendig hält, scheint hier bereits gestorben. Man lebt nicht mehr für sich, sondern stellt es für andere aus. Kopie ist an die Stelle von Original getreten. Denn es gibt außerhalb des Tourismus kaum noch Arbeit und normale Geschäfte, die letzten Schulen und Behörden, auch immer mehr Teile des Ospedales, werden aufs Festland nach Mestre ausgelagert – es bleibt eine historische Hülle, auf die sich die Investoren stürzen, um hier ihren Freizeitpark zu bauen. Die Zahl der Hotels explodiert und selbst die, die noch Arbeit haben, können hier nicht mehr wohnen, weil es keinen bezahlbaren Wohnraum gibt. Ein Großteil der Wohnungen sind mittlerweile Zweitwohnungen, die wenige Tage oder Wochen im Jahr bewohnt sind: pure Geldanlagen. Aber wie soll ein Gemeinwesen so überleben?
Lothar Müller erinnert daran, dass bereits Marinetti und die Futuristen »Bomben auf Venedig« werfen wollten, weil dies für sie das ultimative Museum war, eine Vortäuschung von Stadt, die ein nicht lebensfähiges gestriges Italien repräsentiert. Aber stimmt das? Venedig war immer schon das Gegenteil einer unschuldigen Stadt. Der globale Fernhandel mitsamt der Geldwirtschaft wurde hier erfunden. Die Markuskirche wurde bereits im 12. Jahrhundert mit Raubgut aus Konstantinopel geschmückt – wie skrupellos die Verbindung Macht und Geld war, das demonstrierte als erstes die Republik Venedig.
Die Veranstaltung des in seiner Streitschrift so nüchtern venezianische Zustände protokollierenden Settis hat allerdings die Neigung, ins Allgemeine zu schweifen. Zahlreiche Vorreden, Begrüßungen, Einleitungen – von diesem Übel ist auch dieser Abend nicht frei. Wer da nicht »Wenn Venedig stirbt« gelesen hat, der könnte auf den Gedanken kommen, auch hier würde nur wieder alles zerredet werden. Da ist es gut, dass Lothar Müller mit klaren Fragen und pointierten Statements dem nur mühsam in Gang kommenden Gespräch eine klarere Kontur zu geben versucht. Er zeigt den doppelten Boden, auf dem die heutige Ausbeutung der einstigen Ausbeuterstadt Venedigs gründet: Hier wird ein Blick verkauft, der einmal exklusiv war, es aber längst nicht mehr ist. Das Problem sei doch, wie man Venedig so modernisieren könne, dass es als Stadt lebendig bleibe und nicht nur wie die konservierte Kopie seiner selbst wirke. Und damit stößt man auf das Thema des Bürgers, der nie nur Staats-, auch Stadtbürger ist – oder es einmal war.
Im Zentrum steht die Arbeit und nicht die Freizeit. Ab wann ist man bloß noch ein Spiegelbild des USamerikanischen FreizeitindustriePrinzips? Die Tausend-Zimmer-Ho- tels in Las Vegas, die Schlafstellen für Spielsüchtige sind, nennen sich ausgerechnet nach Orten, mit denen man eine besondere Atmosphäre, eine Seele verbindet wie Venedig oder das kleine Bellagio am Comer See. Für diese Städte scheint es ein Todesurteil, wenn ein solch riesiger, das Entfremdungsprinzip feiernder Parasit sich den Namen von Schönheit und Seele aneignet.
Settis hat in seinem Buch auch über die Zerstörungsarten von Städten gesprochen, die im Grunde immer aus dem Verlust von Maß und Form resultieren. Die Großstädte Lateinamerikas zeugen von dieser Art Wucherungen, Elendsquartier für Millionen an der Peripherie zu sein. Hier existiert dann kein Stadtbürgertum mehr. Alles das, was an urbaner Kultur möglich war, ist damit zerstört. Auch Venedig geht diesen fatalen Weg.
Ist all das Teil eines nicht beherrschbaren Untergangsszenarios? Es gibt simple Fakten, die Settis benennt, die im medialen Lärm um die bald unweigerlich im Hochwasser versinkende Stadt kaum einer hört. Er erinnert daran, dass sowohl der Bürgermeister der Stadt als auch ein für die Region Venetien zuständiger Politiker vor zwei Jahren ins Gefängnis kamen. In Italien werden pro Jahr, so Settis, 154 Milliarden (!) Euro Steuern hinterzogen, damit liegt das Land weltweit auf Platz drei hinter Mexiko und der Türkei. Die Überlebensfrage nicht nur für Venedig, sondern für eine urbane Kultur, die lebt, wird sein, ob die Gesellschaft die Kraft hat, diese tief in die Machtstrukturen eingesickerte Kriminalität zu besiegen.
Und ja, so Settis, Städte sterben auch an etwas, das man auf den ersten Blick nicht sieht: dem Verlust ihres Gedächtnisses, das in die Kanäle Venedigs eingesenkt bleibt. Die unsichtbare Stadt! Aber die Pläne für Hochhäuser und eine U-Bahn vom Festland zum Markusplatz existieren. Eine lebendige Stadtgesellschaft würde sie umgehend in den Papierkorb befördern, aber eine leergezogen Hülle, der Freizeitpark Venedig?
Städte sterben auch an etwas, das man auf den ersten Blick nicht sieht: dem Verlust ihres Gedächtnisses.