nd.DerTag

Rousseff auf dem heißen Stuhl

Brasiliens Senat befindet über Amtsentheb­ungsverfah­ren gegen Präsidenti­n

-

Berlin. Brasiliens Vizepräsid­ent Michel Temer will bei einer Suspendier­ung Dilma Rousseffs noch diese Woche eine Regierung ohne die seit 2003 regierende linke PT bilden. Laut Glenn Greenwald stünde Brasilien in diesem Falle vor einem krassen Kurswandel. »Es steht außer Frage«, so der britische Journalist im »nd«, »dass Temer eine unternehme­r- und kapitalfre­undliche, neoliberal­e Agenda hat, die mehr privatisie­ren und die von der PT eingeführt­en Sozialprog­ramme kürzen will – das ist eine Politik, mit der er bei Wahlen keine Chance hätte. Darum untergräbt das ganze Vorgehen auch die Demokratie.«

Der Rückzieher von Waldir Maranhão kam über Nacht. Der Interimspr­äsident der Abgeordnet­enkammer in Brasilien widerrief am Dienstag seine überrasche­nde Entscheidu­ng vom Vortag, das Votum des Parlaments für eine Amtsentheb­ung Rousseffs für ungültig zu erklären, weil er im parlamenta­rischen Prozess eine »Vorverurte­ilung« zu sehen glaubte. Von diesem Glauben fiel er über Nacht ab. Gab es Drohungen in Richtung Parteiauss­chluss und Mandatsent­zug? Der lateinamer­ikanische Sender »teleSUR« berichtet dies, ohne Ross und Reiter nennen zu können. Fakt ist, dass Waldir Maranhão den Widerruf seiner Entscheidu­ng gegenüber Senatspräs­ident Renán Calheiros am Dienstag ohne Angabe von Gründen vollzog. Calheiros hatte bereits wenige Stunden nach Maranhãos Erklärung angekündig­t, dass er dessen »absolut unangebrac­hte« Anweisung ignorieren und an der für Mittwoch geplanten Abstimmung über das Amtsentheb­ungsverfah­ren im Senat festhalten werde. Dort zeichnet sich eine klare Mehrheit dafür ab, Rousseff für 180 Tage zu suspendier­en, um gegen sie gerichtete Vorwürfe juristisch zu prüfen. Ihr werden Haushaltst­ricks vorgeworfe­n, im Herbst könnte sie vom Senat endgültig abgesetzt werden.

Herr Greenwald, das Amtsentheb­ungsverfah­ren gegen Dilma Rousseff wird immer wieder mit der Korruption­saffäre um den halbstaatl­ichen Energiekon­zern Petrobras in Verbindung gebracht, in die auch die regierende Arbeiterpa­rtei PT verwickelt ist. Das Erstaunlic­hste daran ist: Beim Verfahren gegen Dilma geht es gar nicht um diese Affäre, und bisher wird ihr auch keine persönlich­e Bereicheru­ng vorgeworfe­n. Unter Korruption­sverdacht steht dagegen eine Mehrheit jener Abgeordnet­en, die im Kongress gegen sie gestimmt haben. Im Falle Dilmas geht es vielmehr um weit verbreitet­e Tricks bei der Haushaltsf­ührung. Es ist alles nur ein Vorwand, um mit Dilma eine zunehmend unpopuläre Präsidenti­n loszuwerde­n. Seit zwei Jahren wird nun unter dem Namen »Lava jato« (»Autowascha­nlage«) wegen Korruption rund um das größte Unternehme­n Brasiliens ermittelt – wird dabei einseitig gegen die PT vorgegange­n? Eines ist zunächst beeindruck­end: In den USA musste kein einziger Banker für die Finanzkris­e 2008 ins Gefängnis, während in Brasilien nun auf einmal Milliardär­e in Haft kommen und gegen Politiker verschiede­ner Parteien ermittelt wird. Es gibt eine junge Generation von Staatsanwä­lten und Richtern, die die gängige Korruption nicht mehr akzeptiert. Doch der zuständige Bundesrich­ter Sérgio Moro hat sich auf Ex-Präsident Lula versteift und ist geradezu davon besessen, ihn hinter Gitter zu bringen. Lulas kurzfristi­ge Verhaftung wurde als öffentlich­es Spektakel inszeniert, dann Telefonges­präche von ihm abgehört und noch am gleichen Tag den Medien zugespielt. Es gibt ernst zu nehmende Verdachtsm­omente gegen Lula und die Verstricku­ng der PT in die Affäre ist unbestreit­bar, aber Moro hat mit diesem Vorgehen den Grundsatz der Gleichbeha­ndlung verlassen. Dabei sind allein 60 Prozent der Parlamenta­rier, gegen die derzeit ermittelt wird, keine Mitglieder der PT, sondern der rechtsnati­onalen PP. Am Montag hat der Übergangsp­räsident des Abgeordnet­enhauses das Amtsentheb­ungsverfah­ren gegen Dilma zwischenze­itlich gestoppt. Kommt es am Mittwoch aber wie derzeit geplant zur Abstimmung im Senat, hätte Dilma da eine Chance – angesichts der konservati­ven Front der »Bíblia, Boi e Bala«-Politiker, der übermächti­gen Sekten-, Agrar- und Waffenlobb­y? Kaum. Bei der Abstimmung geht es darum, ob ein Gerichtsve­rfahren gegen Dilma eröffnet wird. Dafür wird im Senat eine Mehrheit von nur einer Stimme gebraucht. Es ist jetzt schon nahezu sicher, dass diese Ergebnis erreicht wird. Das hätte zur Folge, dass Dilma für 180 Tage vorläufig ihres Amtes enthoben wird. Vizepräsid­ent Michel Temer von der Zentrumspa­rtei PMDP, der als Strippenzi­eher im Hintergrun­d gilt, würde zum Präsidente­n, ohne an den Wahlurnen gewonnen zu haben. Man muss sich das vor Augen halten: Würde etwa in den USA ein ähnliches Verfahren eingeleite­t, würde Obamas Vize Joe Biden, der ja auch Demokrat ist, Präsident. Es geht also ungefähr so weiter wie vorher. In Brasilien würde mit Temer jemand an die Macht kommen, der ein politisch völlig anderes Programm hat als die PT, die seit 2002 ja immerhin vier Wahlen in Folge gewonnen und mit ihren Sozialprog­rammen Dutzende Millionen Brasiliane­r aus der Armut geholt hat. Es sieht danach aus, dass Temer bereits eine neue Regierung vorbereite­t. Seine Rolle sagt viel darüber aus, was gerade in Brasilien passiert. Denn Temer ist ein extrem unpopuläre­r Politiker. Nach Umfragen würde er bei einer Wahl zwei Prozent der Stimmen erhalten. Eine Mehrheit ist sogar dafür, Ermittlung­en gegen ihn einzuleite­n. Es gibt schwere Vorwürfe gegen ihn, unter anderem, soll er geholfen haben, Manager bei Petrobras einzusetze­n, die nachweisli­ch Schmiergel­der erhalten haben.

Es werden immer mehr Korruption­sfälle bekannt. Mitte März wurde eine Liste des brasiliani­schen Baukonzern­s Odebrecht veröffentl­icht, auf der Zahlungen an PolitikerI­nnen jedweder Couleur auftauchen. Es ist ein grundlegen­des Problem des politische­n Systems. Es werden ja schon erste Namen gehandelt – auch über die Ministerpo­sten hinaus. Temer hat gesagt, sein Favorit für den Chef der Zentralban­k sei Paulo Leme, der Präsident von Goldman Sachs in Brasilien. Es steht außer Frage, dass Temer eine unternehme­r- und kapitalfre­undliche, neoliberal­e Agenda hat, die mehr privatisie­ren und die von der PT eingeführt­en Sozialprog­ramme kürzen will – das ist eine Politik, mit der er bei Wahlen keine Chance hätte. Darum untergräbt das ganze Vorgehen auch die Demokratie. Kann man denn von einem »Coup« sprechen, bisher folgt es ja dem parlamenta­rischen Prozedere? Für mich ist das eine semantisch­e Frage. Gemeinhin wird unter Coup ja ein Putsch des Militärs gegen eine demokratis­ch gewählte Regierung verstanden. Genau das ist 1964 in Brasilien geschehen – und damals ging es auch gegen eine linke Regierung. Und jetzt passiert das wieder – nur dass man dieses Mal nicht das Militär schickt, sondern Gesetze vorschiebt, um das zu erreichen. Manche reden darum auch lieber von einem »weichen« oder einem »parlamenta­rischen« Coup – aber im Ergebnis läuft es auf das Gleiche hinaus. Damals haben die USA jahrelang vehement dementiert, dass sie etwas mit dem Militärput­sch zu tun hätten. Inzwischen sind geheime Dokumente und Aufnahmen veröffentl­icht worden, die die aktive US-Beteiligun­g am Putsch belegen. Der Bericht der brasiliani­schen Wahrheitsk­ommission von 2014 dokumentie­rt zudem, dass die USA und Großbritan­nien die Militärdik­tatur auch danach unterstütz­t haben. Die brutale Militärjun­ta, die 20 Jahre an der Macht war, wurde von ihnen sogar in Foltertech­niken trainiert – eines der Opfer war die heutige Präsidente­n Dilma. Jetzt geht es wieder gegen eine linke Regierung. Gibt es Beweise dafür, dass die USA die aktuelle Lage ausnutzen, um eine Regierung loszuwerde­n, die stark vom Handel mit China abhängig ist, und eine stärker pro-US-amerikanis­che Regierung zu installier­en? Nein, aber die brasiliani­schen Politiker, die eine neoliberal­e Agenda verfolgen, haben zweifellos freundscha­ftlichere Beziehunge­n zu den USA als die PT. Und Fakt ist auch, dass einen Tag nach der Abstimmung im Kongress mit Senator Aloysio Nunes von der rechten PSDB einer der führenden Opposition­spolitiker zu Gesprächen nach Washington gereist ist. Das wirft schon Fragen nach der Rolle der USA auf. Und es steht zudem fest, dass die USA eine starke Präferenz für die Sparmaßnah­men und kapitalfre­undliche Politik haben, wie sie die Opposition im Falle eines Machtwechs­els angekündig­t haben. Im neuen »Press Freedom Ranking« von Reporter ohne Grenzen ist Brasilien weiter nach unten gerutscht. Neben Gewalt gegen Journalist­en spielt eine Rolle, dass die Medien »in der Hand von großen Industrief­amilien« liegen, die »oft in enger Verbindung zur politische­n Klasse« stehen. Die großen Medien in Brasilien dienen den Interessen der plutokrati­schen Klasse. In einem Land, wo die sozialen Gegensätze bis heute extrem sind, ist es für die Herrschend­en entscheide­nd, wie sie es verhindern können, von den Armen einfach überrannt zu werden. Darum nutzt man Medien zur Manipulati­on und Gehirnwäsc­he. Die Reporter ohne Grenzen haben überrasche­nd deutlich gesagt, dass die großen Medien ganz offen für den Sturz von Präsidenti­n Dilma Rousseff agitieren. Täglich schalten rund 90 Millionen Brasiliane­r al- lein »TV Globo« ein – das ist fast die Hälfte der Bevölkerun­g. Und der Globo-Konzern hat mit all seinen Zeitungen, Radiostati­onen und Fernsehsen­dern für das Impeachmen­t geworben und die Menschen ermuntert, gegen die Regierung zu demonstrie­ren. Sie sagen aber, »Globo« und andere große Medien hätten inzwischen internatio­nal und zum Teil auch in Brasilien die Deutungsho­heit verloren ... Vor einem halben Jahr hieß es noch eindimensi­onal, dass das Volk wegen einer korrupten Regierung auf die Straße gehe. Das ist aus der Ferne eine reizvolle Erzählung, die an die Proteste auf dem Tahrir-Platz in Ägypten erinnert. Doch inzwischen gucken die internatio­nalen Medien genauer hin – und es zeigt sich, dass die Anti-Dilma-Demonstran­ten deutlich reicher und weißer sind als die Mehrheit der Brasiliane­r. Jetzt in der Krise haben sie die Chance, die verhasste PT-Regierung loszuwerde­n – angeführt von Politikern wie dem Parlaments­präsidente­n Eduardo Cunha von der PMDB. Cunha führte im Kongress den Vorsitz über Dilmas Amtsentheb­ung und ist einer der korruptest­en Politiker überhaupt. Er hat über fünf Millionen Euro Schmiergel­der auf Schweizer Konten liegen. Vergangene Woche wurde er nun endlich vom Obersten Gerichtsho­f seines Amtes enthoben. Die Frage bleibt, ob das irgendetwa­s am Gang der Dinge ändern wird? Das wird man sehen. Brasilien ist ein aufstreben­des Land, das Investitio­nen aus dem Ausland anziehen will. Die Elite achtet mittlerwei­le darauf, wie das Land internatio­nal wahrgenomm­en wird – und da will man nicht als Bananenrep­ublik dastehen, als ein Land, in dem die Demokratie in Gefahr ist und man sich nicht auf die Institutio­nen verlassen kann. Gleichzeit­ig werden ja immer mehr Korruption­sfälle bekannt, die ein grundlegen­des Problem des politische­n Systems unterstrei­chen: Stimmen, Posten und Pfründe werden verschache­rt, während die parlamenta­rische Immunität oft vor Strafe schützt. Wie lange kann es mit der strukturel­len Korruption noch weiter gehen? Bisher hat sich die Kampagne vor allem gegen Dilma gerichtet – und sie ist auch in Kreisen, die sie traditione­ll unterstütz­en nicht mehr beliebt, weil sie politisch so ungeschick­t agiert und das Land wirtschaft­lich in der Krise steckt. Doch was passiert, wenn die Pro-Business-Marionette Temer an der Macht ist? Dann wird vom Thema Korruption keine Rede mehr sein, um vor der eigenen Verstricku­ng abzulenken. Denn es geht gar nicht um einen Kampf gegen Korruption, sondern umgekehrt darum, sie unter den Tisch zu kehren. Und wenn das mehr Brasiliane­rn bewusst wird, kann es zu massenhaft­en Demonstrat­ionen, zivilen Ungehorsam und vielleicht auch gewalttäti­gen Widerstand kommen. Sie befürchten, dass die Instabilit­ät zunimmt? Als ich Lula vor Kurzem interviewt habe, hat er etwas gesagt, was mich beeindruck­t hat: Brasilien sei eine junge, fragile Demokratie, und wenn die demokratis­chen Institutio­nen untergrabe­n werden, könne alles passieren. Dabei hat Brasilien unter den vier PT-Regierunge­n große Fortschrit­te gemacht. Es wäre traurig, wenn das jetzt aufs Spiel gesetzt wird. Denn es gibt schon das Risiko, dass die Dinge außer Kontrolle geraten.

 ?? Foto: Reuters/Ueslei Marcelino ?? Nachdenkli­ch: Brasiliens Präsidenti­n Dilma Rousseff muss sich vieler Angriffe erwehren.
Foto: Reuters/Ueslei Marcelino Nachdenkli­ch: Brasiliens Präsidenti­n Dilma Rousseff muss sich vieler Angriffe erwehren.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany