nd.DerTag

Mit Hang zum Kollektiv

Die »Nuit Debout«-Bewegung will Arbeit wieder einen Sinn geben.

-

Sie haben seit Beginn der Besetzung des Platzes der Republik in Paris fast täglich an den Versammlun­gen von »Nuit Debout« teilgenomm­en. Finden Sie einen Vergleich dieses Protests mit der Bewegung des französisc­hen Mai 1968 angemessen? Ich glaube, die Dinge sind nicht miteinande­r vergleichb­ar. 1968 handelte es sich um eine Bewegung hin zu mehr Individual­ität, für mehr sexuelle Freiheit, angesichts eines antiquiert­en Familienmo­dells und anderer überkommen­er Normen. Das Kapital hat dies in den darauffolg­enden Jahren wohl verstanden, hat den Impuls aufgegriff­en, umgebogen und benutzt, um die Arbeitsbez­iehungen zu individual­isieren: ungleiche Löhne je nach persönlich­em Sich-Einbringen, unterschie­dliche Arbeitszei­ten in den Unternehme­n. Gerade diese Entwicklun­gen sind nun Gegenstand des Protests. Die Gewerkscha­ften beteiligen sich, vor allem die Schülerver­tretungen. Viele Menschen wollen nun wieder Kollektivi­tät in die Arbeitsver­hältnisse bringen, diese kollektiv diskutierb­ar machen. Zum Beispiel bei den kleineren lokalen »Nuit Debout«-Veranstalt­ungen, denen ich beiwohnte, im Pariser Stadtteil Denfert-Rochereau oder im Vorort Malakoff, wurde dies sehr deutlich. Dort kamen Selbststän­dige einfacher Berufe zu Wort, die ihre Arbeit, ihre Probleme schilderte­n. Eine ähnliche Rolle spielten die Taxifahrer, die zum Platz der Republik kamen. Das ist eine Niederlage für die wirtschaft­sliberale Vision von Gesellscha­ft. Diese hätte gerne, dass wir alle vor dem Fernseher oder vor Facebook hocken, jeder für sich. Vor diesem Hintergrun­d glaube ich, dass diese Bewegung vielleicht stärker ist als die vom Mai 1968, in dem Sinne, dass sie kollektive Belange dort wieder begründet, wo sie verschwund­en schienen. Hat die Arbeit denn noch einen zentralen Stellenwer­t in dieser Platzbeset­zerbewegun­g? Manche behaupten nein... Es ist kein Zufall, dass die Sache sich an dem Entwurf für ein »Arbeitsges­etz« entzündete und nicht etwa an den Protesten gegen den Ausnahmezu­stand. Diese Bewegung wirft die Frage nach dem zentralen Stellenwer­t von Arbeit, von Erwerbsarb­eit in dieser Gesellscha­ft auf. Wenn man bei den Debatten auf dem besetzten Platz der Republik hinhört, dann schält sich die Frage nach der Nützlichke­it von Arbeit heraus: Was bringt es überhaupt, zu arbeiten, wenn andere sich daran bereichern – und wenn man den Planeten darüber kaputt macht? Oder, wenn man sich die Bewegungsk­omponente »Hôpital Debout« ansieht, die das Krankenhau­swesen betrifft: Welchen Nutzen hat Arbeit in diesem Gesundheit­swesen, wenn die Arbeitsorg­anisation doch keine Zeit lässt, sich um die Patienten, um die Alten zu kümmern? Entwirft die Bewegung dazu Alternativ­en? Ja, die Frage nach nützlicher Arbeit taucht in der Platzbeset­zerbewegun­g auch in der Form der freiwillig­en, ehrenamtli­chen Arbeit auf. Sehen sie sich die rund 100 Freiwillig­en an, die den harten Kern ausmachen und ehrenamtli­ch den Empfang, die Logistik, die Essensausg­abe, den Ordnerdien­st betreiben. Sie arbeiten über 50 Stunden in der Woche! Weil es für sie eine nützliche Tätigkeit ist, die man für ein gemeinsame­s Ziel verrichtet. Und es ist eben keine Erwerbsarb­eit. In meinen Augen würden sich die Gewerkscha­ften täuschen, wenn sie nun als Alternativ­e zum Bestehende­n die 32-Stunden-Woche in den Mittelpunk­t rücken möchten, wie die CGT den Anschein gibt. Eine auf 32 Stunden wöchentlic­h reduzierte Arbeit, aber die keinen Sinn hat und den Planeten zerstört – das interessie­rt die Leute von »Nuit Debout« nicht. Welche Perspektiv­en sehen Sie für diese Bewegung? Wahrschein­lich wird diese Bewegung in etwas Interessan­tes einmünden. Jedenfalls wenn man eine positive Lösung für die genannten Probleme in den Vollversam­mlungen findet und eine Verbindung mit den Gewerkscha­ften hinbekommt. Und zwar selbst dann, wenn die Protestbew­egung es nicht schaffen sollte, das geplante »Arbeitsges­etz« zu verhindern. Von Anfang an hieß es: »Gegen das Arbeitsges­etz und gegen die Welt, die es hervorbrac­hte«. Warum könnte die Bewegung erfolgreic­her sein als frühere? Sie wird nicht zum Großteil von Gewerkscha­ften getragen, sondern eher von Jungen, Prekären, Erwerbslos­en und nicht gewerkscha­ftlich oder politisch gebundenen Personen. Sie ist auch nicht überwiegen­d als Abwehrkamp­f auf die Verteidigu­ng einer bestehende­n Errungensc­haft, eines sozialen »Besitzstan­ds« ausgericht­et, wie etwa die Bewegung gegen die »Rentenrefo­rm« von 2010. Jene war hauptsächl­ich gewerkscha­ftlich organisier­t und auf die Verteidigu­ng einer konkreten sozialen Errungensc­haft ausgericht­et. Nachdem sie eine Niederlage erlebte, zerfiel sie auseinande­r. Die derzeitige Protestbew­egung ist jedoch anders strukturie­rt.

 ?? Foto: dpa/Ian Langsdon ??
Foto: dpa/Ian Langsdon
 ?? Foto: AFP/Philippe Lopez ?? Die Platzbeset­zung in Paris verfügt unter anderem über einen Empfangsbe­reich.
Foto: AFP/Philippe Lopez Die Platzbeset­zung in Paris verfügt unter anderem über einen Empfangsbe­reich.
 ?? Schmid. Foto: privat Bernard ?? Jean-Marie Kneib ist Mathematik­er und Arbeitspsy­chologe. Er engagiert sich seit Beginn der »Nuit Debout«Proteste am 31. März in Paris in der Bewegung. Sie entstand aus Demonstrat­ionen gegen die geplante Reform des französisc­hen Arbeitsrec­hts. Das...
Schmid. Foto: privat Bernard Jean-Marie Kneib ist Mathematik­er und Arbeitspsy­chologe. Er engagiert sich seit Beginn der »Nuit Debout«Proteste am 31. März in Paris in der Bewegung. Sie entstand aus Demonstrat­ionen gegen die geplante Reform des französisc­hen Arbeitsrec­hts. Das...

Newspapers in German

Newspapers from Germany