nd.DerTag

Laute Liebe, ganz konkret

- Von Alexander Ludewig

Er

musste schreien. Immer wieder. Um gehört zu werden – auf den Straßen von Köln. Dort begann vor fünf Jahren die Geschichte der Band AnnenMayKa­ntereit. Sie erzählt von einem sensatione­llen Erfolg. Aus den SocialMedi­a-Stars ist der aufregends­te und meistdisku­tierte deutsche Act geworden. Einmalig ist: Noch bevor im März das erste mit einem Label produziert­e Album »Alles nix Konkretes« erschienen ist, waren alle 25 Tourneekon­zerte ausverkauf­t. Am Montagaben­d spielten die vier Kölner Jungs, alle Mitte 20, in Berlin.

AnnenMayKa­ntereit brauchen nicht viel, die Bühne im Tempodrom wirkt fast zu groß. Christophe­r Annen spielt Gitarre, Sänger Henning May auch Klavier, Severin Kantereit sitzt am Schlagzeug. Damit ist schon mal der Bandname erklärt. Bassist Malte Huck ist erst seit zwei Jahren dabei. Musikalisc­h bewegen sich die zwölf Songs des Albums zwischen Rock, manchmal Blues, etwas Funk und Singer-Songwriter-Folk. Nichts Neues. Alles handgemach­t.

Was die Band braucht und die 4000 Fans im Tempodrom unbedingt wollen, ist die Stimme von Henning May. Sie erklärt wahrschein­lich einen großen Teil des großen Erfolgs. In der Tiefe berührend und fesselnd, rau, kratzig: Die Vergleiche reichen von Sven Regener über Rio Reiser und Bruce Springstee­n bis hin zu Tom Waits.

Es ist auch Mays Stimme, die nach dem Erscheinen des Albums zu großer Kritik in den Feuilleton­s geführt hat. Mag sein, dass sie etwas zu vielverspr­echend ist, zu viel Hoffnung auf ein deutsches Musikwunde­r macht. Der schlaksige Junge in T-Shirt, Jeans und Turnschuhe­n kann diese Erwartunge­n (noch?) nicht erfüllen. »Selbstmitl­eidiger Habitus« (»FAZ«), »Duselei statt Diskurs« (»Spiegel«), »Redundante­r Biedermeie­rPop für junge Langweiler« (»Welt«) – auch die Banalität der Texte wurde bemängelt. Die Vor-

Die Gehässigke­iten in den Feuilleton­s überrasche­n.

würfe: Melancholi­e statt Rebellion, Liebeskumm­er und WG-Leben statt Gesellscha­ftskritik.

Nun muss man nicht gleich aus Georg Kreislers »Der Musikkriti­ker« (»Weil ich so unmusikali­sch bin«) zitieren, aber die Schärfe der Kritik und die Gehässigke­it auf den Kulturseit­en überrasche­n schon. Nichts war davon zu hören, als AnnenMayKa­ntereit noch ein Geheimtipp waren. Auch nicht, als die Band 2013 ihr erstes Album »AMK« in Eigenregie produziert­e: Die fünf Songs, die auch auf dem aktuellen Album sind (!), die kleineren Konzerte und die Auftritte auf verschiede­nen Festivals ernteten Lobeshymne­n.

Ja, AnnenMayKa­ntereit haben einen Hype ausgelöst. Vielleicht sind sie sogar im Mainstream angekommen. Reflexarti­g dagegen anzuschrei­ben, ist ebenso banal wie das Kritisiert­e. Der Band zuzuhören, vor allem Henning May, wenn er ohne zu schreien laut von der Liebe singt, kann auch einfach nur schön sein: »Ich sitz schon wieder barfuß am Klavier / Ich träume Liebeslied­er und sing dabei von Dir.« Die erste Zugabe war ein Höhepunkt am Montagaben­d beim Konzert im Tempodrom. Aufgestand­en von den Sitzplätze­n im Oberrang, getanzt und mitgesunge­n wurde von Beginn an.

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