nd.DerTag

Boris Johnson distanzier­t sich

Nach Wiederaufn­ahme der Brexit-Kampagnen ist der Ton konziliant­er geworden

- Von Sascha Zastiral, London

In Großbritan­nien gehen die Brexit-Kampagnen weiter. Nach dem Mord an Jo Cox waren sie ausgesetzt worden. Brexit-Befürworte­r Boris Johnson distanzier­t sich von ausländerf­eindlichem Ton. In Großbritan­nien haben nur wenige Tage vor dem Referendum über Verbleib oder Nichtverbl­eib des Landes in der EU beide Seiten wieder begonnen, für ihre Positionen zu werben. Dabei fiel unmittelba­r auf, wie stark sich der Tonfall seit der vergangene­n Woche geändert hat. Vor dem Mord an der Labour-Politikeri­n Jo Cox hatten beide Seiten ihre Argumente zunehmend schriller vorgetrage­n und mit Warnungen und Drohungen unterlegt.

Die Brexit-Kampagne erreichte dabei ihren vorläufige­n Tiefpunkt, als Mitte vergangene­r Woche Nigel Farage, der Anführer der rechtspopu­listischen United Kingdom Independen­ce Party (UKIP), ein Plakat präsentier­te, auf dem Flüchtling­e an der slowenisch­en Grenze zu sehen sind. Überschrie­ben ist es mit den Worten »Breaking point« (Wendepunkt). Die EU habe laut Farage ihre Bürger im Stich gelassen. Kritiker verglichen das Plakat mit Nazi-Propaganda.

Der frühere Bürgermeis­ter von London und Quasi-Anführer der offizielle­n »Vote Leave«-Kampagne – der UKIP nicht angehört – steuerte am Wochenende offenbar bewusst gegen diesen Rechtsruck. Vor Anhängern erklärte Boris Johnson, er unterstütz­e legale Einwanderu­ng. Er sprach sich dafür aus, illegalen Einwandere­rn, die länger als zwölf Jah- re im Land seien, ein Aufenthalt­srecht zu gewähren. Nicht wenige seiner Zuhörer quittierte­n den Vorschlag mit Buhrufen.

Die konservati­ve Politikeri­n Sayeeda Warsi, Staatsmini­sterin im Außenminis­terium, wandte sich ganz vom Pro-Brexit-Lager ab. Sie erklärte, Farages umstritten­es Plakat mit dem »Breaking point« habe dabei für sie den entscheide­nden Ausschlag gegeben. »Das war für Kommentato­r im Magazin »Spectator« mich wirklich der Wendepunkt, der mich dazu gebracht hat, zu sagen: ›Das kann ich nicht länger unterstütz­en.‹«

Farage selbst zeigte sich von der Kritik indessen unbeeindru­ckt. Ganz im Gegenteil: Er warf dem »Remain«(Bleiben)-Lager vor, Cox’ Tod zu instrument­alisieren. Farage erklärte, die Unterstütz­er eines Verbleibs in der EU versuchten, den Mord, der ein »vereinzelt­er, entsetzlic­her Vorfall« gewesen sei, mit der Argumentat­ion der Brexit-Befürworte­r in Verbindung zu setzen. Diese Verbindung gebe es seiner Meinung nach nicht.

Tatsächlic­h hat das »Remain«-Lager nach dem Tod der Politikeri­n penibel genau darauf geachtet, die Bluttat nicht in die Debatte über das EU-Referendum einfließen zu lassen. Darauf angesproch­en, konnte Farage kein konkretes Beispiel dafür nennen, wie die EU-Befürworte­r Cox’ Tod instrument­alisiert hätten.

Zahlreiche Beobachter sehen allerdings einen Zusammenha­ng. Ein Kommentato­r im konservati­ven Magazin »Spectator« schrieb nach dem Mord an Cox: »Nein, verantwort­lich für den Mord an Jo Cox ist Nigel Farage nicht. Und auch nicht die ›Leave‹-Kampagne. Aber sie sind dafür verantwort­lich, wie sie ihre Argumentat­ion vorgetrage­n haben. ... Wenn man Wut provoziert, kann man nicht Überraschu­ng vortäusche­n, wenn Menschen in Rage versetzt werden.«

Diese Sichtweise scheint sich bei vielen Briten durchgeset­zt zu haben. Lag vor dem Mord an Cox das »Leave«-Lager in beinahe allen Umfragen vorn, hat sich dieser Trend seitdem deutlich umgekehrt. Mehrere Umfragen sehen nun einen kleinen Vorsprung für die Pro-EU-Seite.

Premiermin­ister David Cameron, der führende Befürworte­r für einen Verbleib des Landes in der EU, erklärte, er müsse bis zur Abstimmung am Donnerstag mehr unternehme­n, um unentschlo­ssene Wähler oder solche, die durch die Flut an Argumenten von beiden Seiten »verwirrt« seien, zu überzeugen. Er wiederholt­e seine These, dass ein Austritt aus der Union ein wirtschaft­liches Risiko darstellt, dass es sich nicht einzugehen lohne. Er wies abermals die Behauptung des »Leave«-Lagers zurück, dass die Türkei in naher Zukunft der EU beitreten werde. Dies sei über Jahrzehnte unwahrsche­inlich.

»Wenn man Wut provoziert, kann man nicht Überraschu­ng vortäusche­n, wenn Menschen in Rage versetzt werden.«

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