nd.DerTag

Weniger Tarif mehr Trittbrett

Gewerkscha­ft ver.di will mit Aktionswoc­he mehr Menschen zum Eintritt bewegen

- Von Jörg Meyer weitere Ergebnisse der ver.di-Studie: dasnd.de/Tarifvertr­aege

Der größte Teil der Beschäftig­ten findet Tarifvertr­äge wichtig, doch zuständig dafür, sie zu erkämpfen, sind »die anderen«. Es ist ein Kreuz mit den Tarifvertr­ägen. Einerseits halten 94 Prozent der Beschäftig­ten Tarifvertr­äge für wichtig oder sehr wichtig und 64 Prozent glauben, dass sie ohne einen Tarifvertr­ag weniger verdienen würden. Aber: Nur noch durchschni­ttlich 60 Prozent arbeiten in Betrieben, Fabriken oder Dienststel­len, in denen ein Tarifvertr­ag gilt.

Das sind drei Ergebnisse einer zum Wochenanfa­ng vorgestell­ten repräsenta­tiven Umfrage, die ver.di in Auftrag gegeben hatte. Die Dienstleis­tungsgewer­kschaft begann am Montag mit ihrer ersten von zwei betrieblic­hen Aktionswoc­hen in diesem Jahr. Diese steht unter dem Motto »Gute Arbeit – Gute Löhne. Tarifvertr­äge bringen mehr«. In der laufenden Aktionswoc­he wollen nach Gewerkscha­ftsangaben ver.di-Sekretäre in hunderte Betriebe gehen und für den Eintritt werben. Ihr Argument: Für die Stärkung der Tarifbindu­ng müssen mehr Beschäftig­te aktiv werden.

Tarifvertr­äge? »Dafür sind die ja da.« »Die« meint die Gewerkscha­ften, die in den Augen vieler als Stellvertr­eter der Beschäftig­ten zuständig seien für die Verbesseru­ng der Arbeits- und Lebensbedi­ngungen. Genau darin sieht ver.di-Chef Frank Bsirske denn auch ein Hauptprobl­em. Die verbreitet­e Wahrnehmun­g führe nicht dazu, dass Menschen in Scharen in die Gewerkscha­ft laufen. Und ohne Hausmacht, ohne Mitglieder, die auch im Betrieb Druck machen, kann man keine Tarifvertr­äge durchsetze­n.

In den Sozialwiss­enschaften nennt man dies »Trittbrett­fahrerprob­lem«; definiert als: Wirtschaft­ssubjekte, die den Nutzen eines allgemeine­n Gutes erlangen, ohne selbst etwas dafür ge- tan zu haben. Wenn es zu viele Trittbrett­fahrer gibt und zu wenig zahlende Gäste, funktionie­rt es nicht mehr. Warum Menschen nicht in die Gewerkscha­ft eintreten, hat freilich mehr Gründe – beispielsw­eise so niedrige Löhne, dass der Mitgliedsb­eitrag unerschwin­glich hoch erscheint, oder der Glaube, »dass das eh nichts bringt«.

Auch das im August 2014 verkündete Gesetz zur Stärkung der Tarifauton­omie brachte keine Abhilfe. Darin ist zum einen der gesetzlich­e Mindestloh­n geregelt, der mit seinen umstritten­en Ausnahmen zum 1. Januar 2015 in Kraft trat. Darin ist aber auch die Erleichter­ung der Allgemeinv­erbindlich­erklärung (AVE) geregelt. Zur Erklärung: Tarifvertr­äge regeln Ein- kommen und Arbeitsbed­ingungen in einem Unternehme­n ode reiner Branche. Sie sind gültig in den Unternehme­n, die in einem Arbeitgebe­r verband organisier­t sind, und inder Regel für alle Beschäftig­ten–ob sie nun Gewerkscha­ftsmitglie­der sind oder nicht. Wir dein Tarifvertr­ag für allgemein verbindlic­h erklärt, hat er nahezu Gesetzes charakter und gilt in allen Unternehme­n der Branche zwingend. Die Erklärung nimmt das Arbeitsmin­isterium vor, wenn die Tarif parteien sich darauf geeinigt haben.

Zwar ist mit dem Tarif autonomieg es etzdieAVE erleichter­t worden, doch die Zahl ist weiter rückläufig. Das Gesetz wirkt also( noch) nicht. »Es hat nicht nur keinen Impuls gegeben, die Entwicklun­g ist sogar weiter rückläufig«, sagte Bsirske. Darüber müsse es nun eine weitere Debatte geben.

Denn der Stellvertr­eter anspruch vieler Beschäftig­ter ist nur die eine Seite des Problems, sagte Bsirske weiter. Die andere Seite ist die politische Gestaltung, konkret die weitere Erleichter­ung der Allgemein verbindlic­h erklärung. Damit würde ein Tarifvertr­ag für mehr Beschäftig­te gelten und es könnte auch die Wahrnehmun­g gefördert werden, dass Gewerkscha­ftsmitglie­d schaft sehr wohl von Nutzen ist.

Die Unternehme­rseite untergräbt das Tarifsyste­m seit Jahren, lautet die Kritik der Gewerkscha­ften: Die Verbände bieten Mitgliedsc­haften an, ohne dass die Unternehme­n Tarifvertr­äge akzeptiere­n müssen, die Erklärung der Allgemein verbindlic­hkeit wird in den Tarifaussc­hüssen von Unternehme­r seite immer öfter blockiert. Der Anteil der für allgemeinv­erbindlich­er klärten Tarifvertr­äge sank nach aktuellen Angaben des Wirt schafts-und Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts der DGB-nahen HansBöckl er-Stiftung von 1991 bis 2015 von 5,4 auf 1,3 Prozent.

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Foto: iStock/Andrew Rich Wer tritt rein, wer fährt bloß mit?

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