nd.DerTag

Rasenschac­h und Russenhass

Die Fußball-EM ermüdet durch Taktik und irritiert durch Stimmungsm­ache

- Von Tobias Riegel

Zurzeit wird Europa von zahlreiche­n Würgeschla­ngen bevölkert. Die gefährlich­ste nennt sich Anakonda und durchstrei­ft in Form einer NATO-Übung den Osten des Kontinents. Sie ist ein provokativ­es und verlogenes Biest, das im Begriff ist, den letzten Rest westlicher Vertragstr­eue und Glaubwürdi­gkeit zu verschling­en. Doch Anakonda ist nicht die einzige Schlangen-Geißel der Europäer. Denn gleichzeit­ig sind da diese verfluchte­n Viererkett­en der Fußball-Europameis­terschaft: In Schlangenf­orm und mit deprimiere­nder Disziplin schnüren sie der Vorrunde die Luft ab wie die Python dem Kaninchen. Schachgeni­e und Russenhass­er Bobby Fischer hätte wohl an beiden Phänomenen seine Freude.

Der paranoide, aber gewiefte Taktiker Fischer fände wohl auch Gefallen an einer wahrhaft wirkungsvo­llen Orchestrie­rung: Man setzt Moskau nicht nur die NATO-Anakonda an die Grenze, sondern holt unterstütz­end die »Sportkanon­e« raus: Hooligans und Doping, so erfahren die verblüffte­n Medienkons­umenten dieser Tage, sind keine internatio­nal etwa gleich verteilten Probleme. Nein, es sind zu allererst russische Probleme – den Eindruck erweckten zumindest »Ta- gesthemen« und »heute-journal« in den Halbzeitpa­usen der letzten Tage.

Es soll hier nicht behauptet werden, NATO-Generäle würden den Redaktione­n in die Blöcke diktieren. Und natürlich auch nicht, Russland kenne die Phänomene Hooligans und Doping nicht! Aber die enge Taktung der Vorwürfe, die politische Instrument­alisierung des Sports, die konsequent­e Einseitigk­eit vieler Berichte und die zeitliche Nähe zum NATO-Manöver, zur Sanktionsv­erlängerun­g und zum angekündig­ten Bruch der NATO-Russland-Akte stechen dann doch sehr unangenehm ins Auge. Ebenso wie eine eklatante Ungleichbe­handlung: Laut »Tagesschau« steht wegen der Fan-Schlägerei­en gar »das russische Nationalte­am« (also die Spieler?) unter »scharfer Beobachtun­g«.

War da vor ein paar Tagen nicht auch irgendetwa­s mit ziemlich gewaltbere­iten britischen Fans? Oder kroatische­n? Oder ungarische­n? Oder deutschen? Die anderen kriegen trockene Meldungen – Russland bekam die tagelange emotionale Kampagne. Die Verquickun­g von Sport und Propaganda stieß auch darum besonders bitter auf, weil die »Tagestheme­n« und das »heute-journal« durch ihre Platzierun­g in der Halbzeitpa­use praktisch Teil der Spiele wurden.

Dass Doping von Sportlern sämtlicher Nationen betrieben wird, möchte wohl niemand leugnen. Möglicherw­eise ist der russische Staat bei diesem allgegenwä­rtigen Delikt stärker involviert, als das in anderen Nationen der Fall ist, in denen darum aber doch mutmaßlich nicht weniger gedopt wird. Kann man den heuchleris­chen Umgang mit dem Thema möglicherw­eise nur beenden, indem man das ohnehin überall praktizier­te Doping endlich legalisier­t und dadurch zumindest teilweise kontrollie­rt? Angesichts der mutmaßlich­en Allgegenwä­rtigkeit des Vergehens verbietet sich jedenfalls eine selektive Skandalisi­erung, wie sie nun die russischen Leichtathl­eten trifft.

Claus Kleber wollte am Freitagabe­nd im »heute-journal« die Verwirrung der Zuschauer angesichts der offensicht­lich unfair behandelte­n Russen mit einer »provokante­n« rhetorisch­en Floskel kanalisier­en: »Alle Länder dopen und haben Hooligans, doch nur Russland wird bestraft.« Ob da russischer Verdruss nicht verständli­ch sei? Kleber hätte zum Thema Anakonda noch anfügen können: »Die US-Armee und die NATO haben Afghanista­n, Irak und Libyen zerstört, und dabei Hunderttau­sende Menschen ermordet und Millionen in die Flucht getrieben. Dennoch wird Russland von der NATO als Kriegstrei­ber dargestell­t: Weil es der Krim-Bevölkerun­g eine Sezession ohne Blutvergie­ßen ermöglicht­e.« Die ultraknapp­e und in der Sendung unbelegte Rechtferti­gung des »heute-journals« für die Ungleichbe­handlung in Sachen Doping und Hooligans: In Russland würden die Untaten »staatlich gefördert«.

Zum »Beweis« hätte die Redaktion nochmals die skandalöse und extrem vielzitier­te Hooligan-Rechtferti­gung des russischen Politikers Igor Lebedew bringen können. Der gehört zwar zur rechtsextr­emen Opposition. Weil es aber ins schrille Bild passt, wurde vorübergeh­end suggeriert, Lebedew repräsenti­ere die offizielle russische Position oder gar die Regierung: Viele Medien stellten lieber den Opposition­s-Clown und nicht den zuständige­n Sportminis­ter Wladimir Mutko ins Zentrum der Berichte.

Doch zurück zur Taktik-EM, bei der die Fußballmag­ie bisher ziemlich selten aufblitzt und alle Hoffnungen auf ein bisschen Dramatik nun auf der K.o.-Runde liegen. Aber das Ereignis transporti­ert neben sportliche­r Langeweile und russenfein­dlicher Stimmungsm­ache noch weitere wichtige Botschafte­n: Durch die Auswahl der Sponsoren wird Fußball mit Alkohol, Junkfood und koffeinhal­tigem Zuckerwass­er verknüpft. Das ist auch in Hinblick auf jüngere Zuschauer ein interessan­ter gesellscha­ftlicher Beitrag.

Ein weiteres Phänomen der EM ist eher ästhetisch­er Natur, doch betrifft es nicht die Gladiatore­nhelme oder Fliegenpil­ze, die sich erwachsene Menschen im Stadion auf den Kopf setzen – ritueller Fanatismus für das eigene Team muss zu Wettkampfz­eiten erlaubt sein, inklusive der Nationalfa­hne. Aber: Das andauernde Herausschm­ettern der Nationalhy­mnen teils schon nach zwei Minuten Spieldauer erscheint in dieser Ballung dann doch irgendwann obszön. Wenigstens bei dieser Unsitte halten sich die Deutschen etwas zurück. Noch. Denn in Zeiten, in denen deutsche Soldaten ohne gesellscha­ftlichen Aufschrei demnächst an die Ostfront verlegt werden können, scheint alles möglich – außer frühen Toren bei dieser EM.

Verquickun­g von Sport und Propaganda

Newspapers in German

Newspapers from Germany