Rasenschach und Russenhass
Die Fußball-EM ermüdet durch Taktik und irritiert durch Stimmungsmache
Zurzeit wird Europa von zahlreichen Würgeschlangen bevölkert. Die gefährlichste nennt sich Anakonda und durchstreift in Form einer NATO-Übung den Osten des Kontinents. Sie ist ein provokatives und verlogenes Biest, das im Begriff ist, den letzten Rest westlicher Vertragstreue und Glaubwürdigkeit zu verschlingen. Doch Anakonda ist nicht die einzige Schlangen-Geißel der Europäer. Denn gleichzeitig sind da diese verfluchten Viererketten der Fußball-Europameisterschaft: In Schlangenform und mit deprimierender Disziplin schnüren sie der Vorrunde die Luft ab wie die Python dem Kaninchen. Schachgenie und Russenhasser Bobby Fischer hätte wohl an beiden Phänomenen seine Freude.
Der paranoide, aber gewiefte Taktiker Fischer fände wohl auch Gefallen an einer wahrhaft wirkungsvollen Orchestrierung: Man setzt Moskau nicht nur die NATO-Anakonda an die Grenze, sondern holt unterstützend die »Sportkanone« raus: Hooligans und Doping, so erfahren die verblüfften Medienkonsumenten dieser Tage, sind keine international etwa gleich verteilten Probleme. Nein, es sind zu allererst russische Probleme – den Eindruck erweckten zumindest »Ta- gesthemen« und »heute-journal« in den Halbzeitpausen der letzten Tage.
Es soll hier nicht behauptet werden, NATO-Generäle würden den Redaktionen in die Blöcke diktieren. Und natürlich auch nicht, Russland kenne die Phänomene Hooligans und Doping nicht! Aber die enge Taktung der Vorwürfe, die politische Instrumentalisierung des Sports, die konsequente Einseitigkeit vieler Berichte und die zeitliche Nähe zum NATO-Manöver, zur Sanktionsverlängerung und zum angekündigten Bruch der NATO-Russland-Akte stechen dann doch sehr unangenehm ins Auge. Ebenso wie eine eklatante Ungleichbehandlung: Laut »Tagesschau« steht wegen der Fan-Schlägereien gar »das russische Nationalteam« (also die Spieler?) unter »scharfer Beobachtung«.
War da vor ein paar Tagen nicht auch irgendetwas mit ziemlich gewaltbereiten britischen Fans? Oder kroatischen? Oder ungarischen? Oder deutschen? Die anderen kriegen trockene Meldungen – Russland bekam die tagelange emotionale Kampagne. Die Verquickung von Sport und Propaganda stieß auch darum besonders bitter auf, weil die »Tagesthemen« und das »heute-journal« durch ihre Platzierung in der Halbzeitpause praktisch Teil der Spiele wurden.
Dass Doping von Sportlern sämtlicher Nationen betrieben wird, möchte wohl niemand leugnen. Möglicherweise ist der russische Staat bei diesem allgegenwärtigen Delikt stärker involviert, als das in anderen Nationen der Fall ist, in denen darum aber doch mutmaßlich nicht weniger gedopt wird. Kann man den heuchlerischen Umgang mit dem Thema möglicherweise nur beenden, indem man das ohnehin überall praktizierte Doping endlich legalisiert und dadurch zumindest teilweise kontrolliert? Angesichts der mutmaßlichen Allgegenwärtigkeit des Vergehens verbietet sich jedenfalls eine selektive Skandalisierung, wie sie nun die russischen Leichtathleten trifft.
Claus Kleber wollte am Freitagabend im »heute-journal« die Verwirrung der Zuschauer angesichts der offensichtlich unfair behandelten Russen mit einer »provokanten« rhetorischen Floskel kanalisieren: »Alle Länder dopen und haben Hooligans, doch nur Russland wird bestraft.« Ob da russischer Verdruss nicht verständlich sei? Kleber hätte zum Thema Anakonda noch anfügen können: »Die US-Armee und die NATO haben Afghanistan, Irak und Libyen zerstört, und dabei Hunderttausende Menschen ermordet und Millionen in die Flucht getrieben. Dennoch wird Russland von der NATO als Kriegstreiber dargestellt: Weil es der Krim-Bevölkerung eine Sezession ohne Blutvergießen ermöglichte.« Die ultraknappe und in der Sendung unbelegte Rechtfertigung des »heute-journals« für die Ungleichbehandlung in Sachen Doping und Hooligans: In Russland würden die Untaten »staatlich gefördert«.
Zum »Beweis« hätte die Redaktion nochmals die skandalöse und extrem vielzitierte Hooligan-Rechtfertigung des russischen Politikers Igor Lebedew bringen können. Der gehört zwar zur rechtsextremen Opposition. Weil es aber ins schrille Bild passt, wurde vorübergehend suggeriert, Lebedew repräsentiere die offizielle russische Position oder gar die Regierung: Viele Medien stellten lieber den Oppositions-Clown und nicht den zuständigen Sportminister Wladimir Mutko ins Zentrum der Berichte.
Doch zurück zur Taktik-EM, bei der die Fußballmagie bisher ziemlich selten aufblitzt und alle Hoffnungen auf ein bisschen Dramatik nun auf der K.o.-Runde liegen. Aber das Ereignis transportiert neben sportlicher Langeweile und russenfeindlicher Stimmungsmache noch weitere wichtige Botschaften: Durch die Auswahl der Sponsoren wird Fußball mit Alkohol, Junkfood und koffeinhaltigem Zuckerwasser verknüpft. Das ist auch in Hinblick auf jüngere Zuschauer ein interessanter gesellschaftlicher Beitrag.
Ein weiteres Phänomen der EM ist eher ästhetischer Natur, doch betrifft es nicht die Gladiatorenhelme oder Fliegenpilze, die sich erwachsene Menschen im Stadion auf den Kopf setzen – ritueller Fanatismus für das eigene Team muss zu Wettkampfzeiten erlaubt sein, inklusive der Nationalfahne. Aber: Das andauernde Herausschmettern der Nationalhymnen teils schon nach zwei Minuten Spieldauer erscheint in dieser Ballung dann doch irgendwann obszön. Wenigstens bei dieser Unsitte halten sich die Deutschen etwas zurück. Noch. Denn in Zeiten, in denen deutsche Soldaten ohne gesellschaftlichen Aufschrei demnächst an die Ostfront verlegt werden können, scheint alles möglich – außer frühen Toren bei dieser EM.
Verquickung von Sport und Propaganda