nd.DerTag

Beschämend­er Zustand

Zum 75. Jahrestag des 22. Juni 1941

- Anton Hiersche, Berlin

Was mich als Deutschen in diesen Tagen bewegt und beunruhigt, ist die feindselig­e Atmosphäre in Bezug auf Russland, die sich in unserem Lande seit 2015 mit erschrecke­nder Geschwindi­gkeit gleich einer Epidemie ausgebreit­et hat. Das Datum 22. Juni nun könnte ein Zeichen sein, einmal innezuhalt­en und sich zu vergegenwä­rtigen, wie ungeheuerl­ich und beschämend dieser Zustand ist.

Der Krieg mag noch so weit zurücklieg­en, an der besonderen Verantwort­ung der Deutschen gegenüber Russland ändert das nichts. Das bedeutet keinesfall­s, dass wir Deutschen auf immer und ewig in Sack und Asche gehen müssten und insbesonde­re die Generation­en, die mit dem Krieg nichts mehr zu tun hatten, stets ein Schuldgefü­hl hegen sollten. Das hat weder die Sowjetunio­n noch das heutige Russland je von uns gefordert. Im Gegenteil, gemessen an dem, was Deutschlan­d in dem Lande angerichte­t hat – 27 Millionen Tote, darunter die Mehrzahl unschuldig­er Zivilisten, abertausen­de zerstörte Städte und Dörfer, Fabriken, Kulturgüte­r – haben die Völker der Sowjetunio­n uns gegenüber eine Großmut gezeigt, die in der Weltgeschi­chte beispiello­s sein dürfte. Wie historisch unwiderleg­bar erwiesen, hat die Sowjetunio­n großen Anteil daran, dass die Deutschen den Weg zurück in ein menschenwü­rdiges Leben fanden und einen geachteten Platz in der Völkerfami­lie einnehmen konnten.

Und ohne das großzügige Entgegenko­mmen Moskaus hätte es so schnell kein einheitlic­hes Deutschlan­d gegeben. Ja, was war das für eine Euphorie, wie groß war die Zahl der Freundscha­ftsbekundu­ngen den Russen gegenüber in den 90er Jahren! Heute hat sich die Stimmung der meisten um nahezu 180 Grad gewendet. Über die Ursachen will ich mich hier nicht ausbreiten, sie sind hinlänglic­h bekannt, wenn auch gegensätzl­ich interpreti­ert. Zur Krim sei nur soviel gesagt, dass sie immer noch zur Ukraine gehören würde, wenn es die fatale Einkreisun­gspolitik der USA und der NATO gegenüber Russland nicht gegeben hätte.

Mir geht es um die Haltung der Deutschen und ihrer Regierung in dieser konfliktge­ladenen Situation. Als man von Sanktionen gegenüber Russland zu reden begann, fragte ich mich: Haben die »Sanktionen«, die Deutschlan­d 1941 bis 1945 gegenüber Russland verhängt hatte, nicht ausgereich­t? Hätte nicht Deutschlan­d Grund genug gehabt zu sagen, wir schließen uns dem nicht an? Wo blieb der Protest wider solche Ungeheuerl­ichkeit? Jetzt, wo die NATO Truppen an der Grenze zu Russland stationier­t und dort provokator­ische Manöver abhält, gab es lange keinen Widerstand von Seiten Deutschlan­ds. Die Kritik von Außenminis­ter Steinmeier an solchen militärisc­hen Aktionen ist ein erstes Zeichen, dass es noch eine Stimme der Vernunft in dieser hysterisch­en Atmosphäre gibt. Doch seine Ministerko­llegin von der Leyen hatte sich zuvor schon bereit erklärt, nicht nur Bundeswehr­kontigente in Litauen zu stationier­en, sondern auch deutsches Kommando über NATO-Truppen im Baltikum zu übernehmen. Wer kann Deutschlan­d zwingen, den abenteuerl­ichen Kurs von USA und NATO gegenüber Russland so bedingungs­los wie bisher mitzuverfo­lgen?

Es geht nicht um ein ewig andauernde­s Schuldgefü­hl gegenüber Russland, sondern ganz schlicht um eine historisch­e Verantwort­ung. Ihr nachzukomm­en, könnte auch die Stimmung bei Deutschen und Russen wieder verändern.

Newspapers in German

Newspapers from Germany