Beschämender Zustand
Zum 75. Jahrestag des 22. Juni 1941
Was mich als Deutschen in diesen Tagen bewegt und beunruhigt, ist die feindselige Atmosphäre in Bezug auf Russland, die sich in unserem Lande seit 2015 mit erschreckender Geschwindigkeit gleich einer Epidemie ausgebreitet hat. Das Datum 22. Juni nun könnte ein Zeichen sein, einmal innezuhalten und sich zu vergegenwärtigen, wie ungeheuerlich und beschämend dieser Zustand ist.
Der Krieg mag noch so weit zurückliegen, an der besonderen Verantwortung der Deutschen gegenüber Russland ändert das nichts. Das bedeutet keinesfalls, dass wir Deutschen auf immer und ewig in Sack und Asche gehen müssten und insbesondere die Generationen, die mit dem Krieg nichts mehr zu tun hatten, stets ein Schuldgefühl hegen sollten. Das hat weder die Sowjetunion noch das heutige Russland je von uns gefordert. Im Gegenteil, gemessen an dem, was Deutschland in dem Lande angerichtet hat – 27 Millionen Tote, darunter die Mehrzahl unschuldiger Zivilisten, abertausende zerstörte Städte und Dörfer, Fabriken, Kulturgüter – haben die Völker der Sowjetunion uns gegenüber eine Großmut gezeigt, die in der Weltgeschichte beispiellos sein dürfte. Wie historisch unwiderlegbar erwiesen, hat die Sowjetunion großen Anteil daran, dass die Deutschen den Weg zurück in ein menschenwürdiges Leben fanden und einen geachteten Platz in der Völkerfamilie einnehmen konnten.
Und ohne das großzügige Entgegenkommen Moskaus hätte es so schnell kein einheitliches Deutschland gegeben. Ja, was war das für eine Euphorie, wie groß war die Zahl der Freundschaftsbekundungen den Russen gegenüber in den 90er Jahren! Heute hat sich die Stimmung der meisten um nahezu 180 Grad gewendet. Über die Ursachen will ich mich hier nicht ausbreiten, sie sind hinlänglich bekannt, wenn auch gegensätzlich interpretiert. Zur Krim sei nur soviel gesagt, dass sie immer noch zur Ukraine gehören würde, wenn es die fatale Einkreisungspolitik der USA und der NATO gegenüber Russland nicht gegeben hätte.
Mir geht es um die Haltung der Deutschen und ihrer Regierung in dieser konfliktgeladenen Situation. Als man von Sanktionen gegenüber Russland zu reden begann, fragte ich mich: Haben die »Sanktionen«, die Deutschland 1941 bis 1945 gegenüber Russland verhängt hatte, nicht ausgereicht? Hätte nicht Deutschland Grund genug gehabt zu sagen, wir schließen uns dem nicht an? Wo blieb der Protest wider solche Ungeheuerlichkeit? Jetzt, wo die NATO Truppen an der Grenze zu Russland stationiert und dort provokatorische Manöver abhält, gab es lange keinen Widerstand von Seiten Deutschlands. Die Kritik von Außenminister Steinmeier an solchen militärischen Aktionen ist ein erstes Zeichen, dass es noch eine Stimme der Vernunft in dieser hysterischen Atmosphäre gibt. Doch seine Ministerkollegin von der Leyen hatte sich zuvor schon bereit erklärt, nicht nur Bundeswehrkontigente in Litauen zu stationieren, sondern auch deutsches Kommando über NATO-Truppen im Baltikum zu übernehmen. Wer kann Deutschland zwingen, den abenteuerlichen Kurs von USA und NATO gegenüber Russland so bedingungslos wie bisher mitzuverfolgen?
Es geht nicht um ein ewig andauerndes Schuldgefühl gegenüber Russland, sondern ganz schlicht um eine historische Verantwortung. Ihr nachzukommen, könnte auch die Stimmung bei Deutschen und Russen wieder verändern.