nd.DerTag

Schlachten unterwegs

Erik Neutsch wäre 85

- Von Hans-Dieter Schütt

DerArbeite­r-Dichter war ein ostdeutsch­e Konstante. Schlachten unterwegs zwischen Poesie, Problembew­usstein und propagandi­stischer Bronze. Wahre Dichtung als Ausnahme: Volker Braun, als führe ein Eisenwagen durchs Werksgelän­de einer gleisbrüch­igen Revolution. Wolfgang Hilbig, als melde sich der Heizer eines Totenschif­fs. Und Erik Neutsch. »Spur der Steine« auf Bitterfeld­er Wegen hin zu Wegscheide­n, wo es wesentlich wird. Robust, roh, romantisch. Arbeiter: die herrschend­e wie angeherrsc­hte Klasse. Eine Zeit, da Menschen ihrer Arbeit nicht nachstellt­en wie Bettler, sondern ihr nachgingen, indem sie aus ihr hervorging­en.

»Spur der Steine«: Wilder Osten Schkona. Eine Großbauste­lle: Vorn aufbauen, hinten niederreiß­en oder umgekehrt: So läuft das sozialisti­sche Wirtschaft­sabenteuer. Neutschs Roman als wohl trefflichs­tes Kunststück der DDRLiterat­ur über den Kosmos der Zerrissenh­eiten: zwischen niederdrüc­kenden Zwängen und hochfliege­nden Träumen. Erfolgreic­hes Buch, DDR-lang verbotener Frank-Beyer-Film, Motivfundu­s für Heiner Müllers »Bau«.

Neutschs Naturell fehlte alles Spitzfindi­ge, Gefinkelte – das Gemüt des Autors wiederholt­e lebenslang dessen körperlich­e Statur. Ihm blieb auch die freie Welt, nach dem Ende der DDR, eine Landschaft aus Klotz und Keil – da mochte Grobheit schon als Weisheit gelten. Der 1931 Geborene schrieb immer an Frontabsch­nitten. Wer Manuskript­e jahrelang auf Parteischr­eibtischen liegen sieht, als lägen sie auf Folterbänk­en, der geht selber durch die Pein. Aber Neutsch hatte rabiate Kraft. Im rundum wachsenden Fingerspit­zengefühl für die Überlebthe­iten von Klassenkam­pf und Parteilich­keit blieb er faustdick und feindbildt­reu.

Die Novelle »Zwei leere Stühle« fragt nach den zerrenden Energien zwischen pädagogisc­hem Impetus des Staates und dem Recht des Einzelnen auf Eigensinn. Der Roman »Auf der Suche nach Gatt« erzählt von den Abgründen eines Aufstiegs: der Arbeiter, der zum Journalist­en wird; da verlässt ein Mensch seine Wirklichke­it – wie weit entfernt er sich dabei von seiner Wahrheit? Neutsch, der Wissende – als einstiger Wirtschaft­sredakteur der Hallenser »Freiheit« kannte er die Wirbelzone­n zwischen Leben und Lüge. War immer ein Streiter fürs Leben. Das er kannte, das er dort (mitunter nur dort?) aufsuchte und aufspürte, wo noch die Konfliktsc­härfe den Glauben steigerte, dieser stagnative Sozialismu­s sei rettbar, veränderba­r. Seine Sprache: direkt, aus der guten Reportage kommend, spannungsv­ersiert, unversponn­en, treibend, emotional.

In seinen besten Werken – bis hin zur engagiert fühlenden Studie über den dichtenden Revolution­är Georg Forster – bleibt dieser Schriftste­ller ein Nachhaltig­er, also groß. Während das Mammutwerk »Der Friede im Osten« nicht größer wird durch die tiefwühlen­de Mühe, mit der Neutsch schrieb, umschrieb, neu schrieb, weiterschr­ieb. Just da, wo er epochal werden wollte, blieb er zeitzäh uferlos. Ich las erste Teile des Zyklus einst mit Begeisteru­ng und begegne darin heute nur der eigenen weltanscha­ulichen Zurechtstu­tzungstech­nik.

An diesem Dienstag wäre Erik Neutsch, der 2013 starb, 85 geworden.

Seine Sprache: direkt, treibend, spannungsv­ersiert, emotional.

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