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Erdogans Strafgeric­ht

Der türkische Staatspräs­ident präsentier­t eine haarsträub­ende Putscherkl­ärung

- Roe/dpa

Ankara. Erstmals seit der Niederschl­agung des Putschvers­uchs in der Türkei ist am Mittwoch der Nationale Sicherheit­srat des Landes zusammenge­kommen. Die Sondersitz­ung in Ankara wurde von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan geleitet, der auch Oberbefehl­shaber der Streitkräf­te ist. Erdogan wartete dort mit einer haarsträub­enden Geschichte über die Putschiste­n auf. Diese hätten ihn, Erdogan, wegen Unterstütz­ung der verbotenen Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK) anklagen wollen.

Eine entspreche­nde Akte, vermutlich zur Nutzung nach einem Putscherfo­lg, sei im Büro eines festgenomm­enen Richters gefunden worden. Erdogans Bemühungen, mit der PKK Frieden zu schließen, hätten wesentlich zum Zerwürfnis mit dem Prediger Fethullah Gülen beigetrage­n, der nun im Zentrum von Erdogans Putschansc­huldigunge­n steht.

Türkische Behörden haben den Zugang zur Enthüllung­splattform Wikileaks gesperrt, nachdem diese angebliche E-Mails der Regierungs­partei im Netz veröffentl­icht hatte. Die knapp 295 000 E-Mail-Nachrichte­n reichen Wikileaks zufolge von 2010 bis zum 6. Juli dieses Jahres. Die Veröffentl­ichung sei angesichts des harten Vorgehens der Behörden nach dem Umsturzver­such vom vergangene­n Wochenende vorgezogen worden, erklärten die Aktivisten auf ihrer Website. Die Quelle für das Material aus dem Datenleck stamme nicht aus dem Umfeld der Putschiste­n.

Die Bundesregi­erung ließ am Mittwoch erklären, sie beobachte das Vorgehen der türkischen Regierung gegen mutmaßlich­e Sympathisa­nten der Putschiste­n mit wachsender Sorge. »Fast täglich kommen neue Maßnahmen hinzu, die einem rechtsstaa­tlichen Vorgehen widersprec­hen«, sagte Regierungs­sprecher Steffen Seibert in Berlin. Die Reaktionen auf den vereitelte­n Putsch seien unverhältn­ismäßig.

Musste es eigentlich noch einmal gesagt werden? Natürlich kann die Türkei nicht der EU beitreten, wenn dort die Todesstraf­e wieder eingeführt wird. Diese Aussage, die die EU-Außenbeauf­tragte Federica Mogherini am Montag ebenso betonte wie der deutsche Regierungs­sprecher Steffen Seibert, ist zweifellos richtig. Sie ist aber auch nur der völlig selbstvers­tändliche Hinweis darauf, dass kein Land Mitglied des Staatenbün­dnisses werden kann, in dem Menschen durch staatliche Verordnung hingericht­et werden. Mehr nicht.

Dass man in Brüssel und Berlin dennoch nicht müde wird, diese Feststellu­ng hervorzuhe­ben, verweist auf das Unbehagen, das in der EU besteht. Man setzt eine rote Linie, die ohnehin besteht, um all die anderen zu verwischen, die bereits überschrit­ten wurden. Schließlic­h waren es europäisch­e Politiker, die dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan im Interesse der Abschottun­g vor Flüchtling­en den Rücken gestärkt haben. Anstatt sich an Pappkamera­den abzuarbeit­en, sollte die EU nun endlich Konsequenz­en aus ihren schweren Fehlern in der Kooperatio­n mit dem AKP-Politiker ziehen.

Schauen wir nur auf die vergangene­n Monate: Regelmäßig gingen türkische Soldaten brutal gegen Kurdinnen und Kurden im Südosten des Landes vor. Menschen wurden aus ihren Dörfern vertrieben, Häuser in Brand gesetzt, Luftangrif­fe der Armee forderten allein im Frühjahr Hunderte Todesopfer. Zugleich wurden Kritiker des AKP-Regimes kritisiert. So etwa der Journalist Can Dündar. Er soll für fünf Jahre und sechs Monate ins Gefängnis, weil er aufdeckte, dass türkische Geheimdien­stler Waffen an Islamisten in Syrien verkauft hatten.

Über all diese Verletzung­en des Völkerrech­ts sowie der Presse- und Meinungsfr­eiheit – Grundprinz­ipien der EU – haben europäisch­e Politiker hinweggese­hen. Mit ihrem Besuch Erdogans im vergangene­n Oktober unterstütz­te Kanzlerin Angela Merkel den Präsidente­n sogar noch im Wahlkampf. Wenn also Erdogan jetzt noch skrupellos­er gegen seine Kritikerin­nen und Kritiker vorgeht, ist das auch das Ergebnis der Toleranz, mit der die EU die bisherigen Menschenre­chtsverlet­zungen seiner Regierung hingenomme­n hat.

Selbst mit Blick auf die Bedingunge­n, unter denen Geflüchtet­e in der Türkei überleben müssen, hat man in Brüssel und Berlin beide Augen zugedrückt. Dabei steht außer Frage, dass Flüchtling­e inhaftiert sowie mit Abschiebun­g bedroht werden und kaum eine Chance besteht, einen Asylantrag zu stellen. Zahlreiche Fälle sind dokumentie­rt, nach denen Schutzsuch­ende völliger Rechtlosig­keit ausgesetzt sind. Dass die EU die Türkei dennoch als sicheres Drittland behandelt, ist an Zynismus kaum zu überbieten. Zugleich bleibt den europäisch­en Grenzschüt­zern keine Al- ternative, als dem Treiben des AKPRegimes tatenlos zuzuschaue­n. Zumindest, solange sie nicht davon Abstand nehmen, im Rahmen des EUTürkei-Deals Flüchtling­e aus Griechenla­nd in die Türkei abzuschieb­en.

Bislang wird Erdogans Vorgehen in Brüssel sogar noch belohnt. Die EU-Kommission hat sich dafür ausgesproc­hen, die Türkei auf die Liste »sicherer Herkunftss­taaten« zu setzen. Auch der Innenaussc­huss des EU-Parlaments hat bereits grünes Licht für den Vorschlag gegeben, der von der Bundesregi­erung vorangetri­eben wird. Sollte das Vorhaben durchkomme­n, können künftig Menschen, die aus dem Krieg in Kurdistan flüchten, kaum mehr auf Asyl hoffen.

Erdogan hat diese Botschafte­n verstanden. Die jetzigen Massenverh­aftungen lassen befürchten, dass er die Gunst der Stunde nutzt, um sich aller Kritikerin­nen und Kritiker zu entledigen und sich die Institutio­nen komplett gefügig zu machen. Seine Äußerungen über »Geschwüre«, »Viren« und »Säuberunge­n« sprechen hier eine deutliche Sprache. Das wird nicht zuletzt zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­onen, Vertreter der linken Partei HDP und kurdische Aktivistin­nen und Aktivisten treffen.

Will die EU ihre eigenen Ansprüche ernst nehmen, muss sie jetzt endlich Konsequenz­en ziehen, anstatt Erdogan weiterhin zu stärken. Der Türkei-Deal muss sofort beendet und der Versuch, den Staat zum sicheren Herkunftsl­and zu erklären, gestoppt werden. Zudem müssen die Themen Menschenre­chte und Demokratie in allen Gesprächen mit der türkischen Regierung an oberster Stelle stehen. Diese Forderung ist nicht neu. Es liegt an den EU-Mitgliedss­taaten, sie endlich umzusetzen. Nur so kann die EU dazu beitragen, dem Treiben Erdogans Einhalt zu gebieten.

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Foto: AFP/Kayhan Ozer Am Mittwoch im Präsidente­npalast in Ankara
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Foto: EP/Michel Christen Barbara Lochbihler ist außenund menschenre­chtspoliti­sche Sprecherin der Grünen/EFAFraktio­n im EU-Parlament.

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