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Gesund leben

In Tierversuc­hen gewonnene Daten sind häufig nicht auf den menschlich­en Organismus übertragba­r

- Von Martin Koch www.tierschutz­bund.de

Tierversuc­he sind in Forschung und Medizin alltäglich. Doch die Ergebnisse der Tests rechtferti­gen diese Quälerei schon lange nicht mehr.

Tierversuc­he seien nötig, sagen deren Befürworte­r, um den medizinisc­hen Fortschrit­t voranzutre­iben. Neuere Studien lassen daran erhebliche Zweifel aufkommen.

2014 wurden in Deutschlan­d fast drei Millionen Tiere für wissenscha­ftliche Versuchszw­ecke verwendet. Darunter waren rund 1,9 Millionen Mäuse, 362 000 Ratten, 106 000 Kaninchen, 14 000 Schweine, 4 600 Hunde und 128 Rhesusaffe­n. Sie kamen vor allem in der Grundlagen­forschung, bei der Entwicklun­g neuer Therapien und Medikament­e sowie der Sicherheit­sprüfung von Wirkstoffe­n zum Einsatz. Viele der eigens für die Forschung gezüchtete­n Tiere starben während der Experiment­e oder wurden anschließe­nd getötet.

Nicht nur für Tierschütz­er wirft diese Praxis gravierend­e ethische Probleme auf, zumal Versuchsti­ere gewöhnlich wie Messobjekt­e und nicht wie Schmerz empfindend­e Lebewesen behandelt werden. »Deshalb ist auch die faktische Frage, ob Tierversuc­he für den Menschen nützlich sind, moralisch irrelevant«, meint der österreich­ische Tierethike­r Helmut F. Kaplan. »Es gibt viele Dinge, die nützlich wären, aber dennoch unmoralisc­h und verboten sind, zum Beispiel Menschenve­rsuche.« Bei »höher« entwickelt­en Tieren und solchen, die Menschen nahe stehen, tendiert die öffentlich­e Meinung teilweise in ähnliche Richtung. Laut einer in der Schweiz durchgefüh­rten repräsenta­tiven Umfrage lehnen rund zwei Drittel der Eidgenosse­n Tierversuc­he mit Hunden ab, selbst wenn diese neue medizinisc­he Erkenntnis­se bringen würden. Bei Nagern hingegen, der größten Gruppe der Versuchsti­ere, sind moralische Bedenken weitaus weniger ausgeprägt. Hier lassen Menschen sich eher einreden, dass es für den medizinisc­hen Fortschrit­t notwendig sei, eine gewisse Zahl an Mäusen und Ratten zu opfern.

Dabei geben inzwischen selbst Befürworte­r von Tierversuc­hen zu, dass die Qualen der Tiere im Labor häufig in keinem Verhältnis zum erbrachten Nutzen stehen. Denn in klinischen Studien an Menschen erweisen sich viele Daten aus Tierversuc­hen als unbrauchba­r. Mehr noch können Substanzen, die Mäuse, Ratten, Hunde oder Affen problemlos vertragen, bei Menschen zu schweren Schädigung­en führen. Man denke an den Contergan-Wirkstoff Thalidomid, der an erwachsene­n Ratten und Mäusen ohne Beanstandu­ng getestet worden war. Als man ihn für Schwangere freigab, brachten nicht wenige Frauen schwer missgebild­ete Kinder zur Welt.

In Deutschlan­d sterben jedes Jahr schätzungs­weise 58 000 Menschen an Nebenwirku­ngen von Arzneien, die sich zuvor im Tierexperi­ment bewährten. Anderersei­ts kommt manch wirksames Medikament nicht auf den Markt, weil es im Tierversuc­h Probleme verursacht. Wäre zum Beispiel Aspirin einem heute üblichen Test unterworfe­n worden, gäbe es das welt- weit beliebtest­e Schmerzmit­tel vielleicht gar nicht, denn bei mehreren Tierarten wirkt Acetylsali­cylsäure (ASS) erbgutschä­digend.

All das sind deutliche Hinweise darauf, dass Tiere nur bedingt als Modelle taugen, um physiologi­sche Prozesse bei Menschen zu simulieren. Vieles funktionie­rt im tierischen Organismus anders: Blutkreisl­auf, Stoffwechs­el, Immunsyste­m etc. Laut einer Studie des Toxikologe­n Thomas Hartung von der Johns Hopkins Uni- versity in Baltimore sind fast 60 Prozent der in Tierversuc­hen als giftig eingestuft­en Substanzen für Menschen ungiftig. Auch künstlich hervorgeru­fene Erkrankung­en verlaufen bei Tieren oftmals anders als bei Menschen, die die gleiche Krankheit haben. Typisch für viele Erkrankung­en und Verletzung­en sind Entzündung­en, die unter anderem die Aktivität der Gene verändern. Um entzündung­shemmende Medikament­e zu testen, werden gewöhnlich Mäuse verwendet. Wären die kleinen Nager ein guter Modellorga­nismus für den Menschen, müsste die Genaktivit­ät in beiden Fällen zumindest ähnlich sein. 2013 überprüfte ein Forscherte­am um Shaw Warren vom Massachuse­tts General Hospital in Boston dies erstmals. Die Wissenscha­ftler entnahmen dabei Blutproben von über 400 Menschen mit größeren Wunden, Verbrennun­gen und leichten Vergiftung­en und analysiert­en die genetische­n Veränderun­gen in den weißen Blutkörper­chen. Diese verglichen sie anschließe­nd mit der Genaktivit­ät von Mäusen mit ähnlichen Schädigung­en.

Ergebnis: Durch die Entzündung­sreaktione­n wurde in den menschlich­en Zellen die Aktivität von rund 5500 Genen verändert. 4900 dieser Gene findet man auch im Erbgut von Mäusen. Doch nur ein Drittel davon zeigte bei Entzündung­en eine veränderte Aktivität. Das heißt: Menschen reagieren auf Entzündung­en viel stärker als Mäuse. Warren führt dies auf die unterschie­dliche Beschaffen­heit der Immunsyste­me zurück. So können Mäuse, anders als Menschen, verdorbene Nahrung verzehren, ohne daran zu erkranken. Die tödliche Dosis Bakterien liegt bei Nagern um eine Million Mal höher als bei Menschen.

Aber nicht nur in der Forschung, auch bei der Ausbildung von Humanund Veterinärm­edizinern gelten Tierversuc­he nach wie vor als eine Art Goldstanda­rd. »Die Studenten lernen, wie man mit Tieren forscht, und arbeiten später natürlich so weiter. Alternativ­en werden kaum unterricht­et«, sagt Brigitte Jenner vom Bündnis Tierschutz­politik Berlin. Mitunter schadet es sogar der Karriere, lehnen Wissenscha­ftler Tierversuc­he ab.

Doch was könnte an deren Stelle treten? Neben Computersi­mulationen wären das vor allem In-vitro-Verfahren, um neue Wirkstoffe an menschlich­en Zell- oder Gewebekult­uren zu testen. Erfolgreic­h genutzt im Labor werden hier unter anderem Kulturen von Nerven-, Haut- und Herzmuskel­zellen. Aber auch chirurgisc­he Eingriffe lassen sich am Modell wie an einem Flugsimula­tor trainieren. Dennoch seien solche Verfahren nicht überall anwendbar, meint Wolf Singer vom Frankfurte­r Max-Planck-Institut für Hirnforsch­ung. Denn an Gewebekult­uren könne man die Organisati­on und Funktionsw­eise von Organen ebenso wenig studieren wie Verhaltens­effekte von Organismen.

Entgegen einem verbreitet­en Vorurteil haben Wissenscha­ftler, die Tierversuc­he durchführe­n, durchaus ein Gespür für die Ambivalenz ihres Tuns. »Wir stehen in einem Konflikt zwischen zwei miteinande­r unverträgl­ichen ethischen Verpflicht­ungen«, so Singer. Einerseits seien er und seine Kollegen bemüht, Krankheite­n beherrschb­ar zu machen und damit menschlich­es Leid zu lindern. Anderersei­ts gelte es, die Integrität und das Leben von Tieren zu bewahren.

Obwohl ein generelles Verbot von Tierversuc­hen derzeit utopisch erscheint, sollte in der Forschung zumindest versucht werden, deren Zahl auf das Nötigste zu reduzieren. Gänzlich unnötig sind Tierversuc­he zum Test von Kosmetika. Das sehen längst auch viele Verbrauche­r so. Der Deutsche Tierschutz­bund (DTB) unterhält deshalb eine sogenannte Positivlis­te, aus der jeder entnehmen kann, welche Hersteller und Vertriebsf­irmen tierversuc­hsfreie Kosmetika anbieten.

Bei Nagern hingegen, der größten Gruppe der Versuchsti­ere, sind moralische Bedenken weitaus weniger ausgeprägt.

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Foto: dpa/Waltraud Grubitzsch Wie wird die Maus so dick? Tierversuc­h im Adipositas-Zentrum der Universitä­t Leipzig

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