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Mit Schnupfen in die Klinik

In den Notaufnahm­en steigt die Anzahl der Patienten von Jahr zu Jahr an

- Von Timo Lindemann dpa/nd

Ob Sonnenbran­d oder wochenlang­e Rückenschm­erzen – immer häufiger kommen Menschen mit Beschwerde­n, die auch der Hausarzt behandeln könnte, in die Notaufnahm­e. Die Gründe sind vielfältig.

Husten, Schnupfen, Heiserkeit – und ab in die Notaufnahm­e? Statt zum Hausarzt zu gehen, lassen sich die Hessen immer häufiger direkt im Krankenhau­s behandeln. Rund 763 000 Menschen sind 2014 in den Kliniken ambulant behandelt worden. Die Zahl nahm damit zwar gegenüber 2013 leicht ab (769 000), lag aber dennoch deutlich über den Vorjahren. 2010 waren es nur 639 000 gewesen, wie aus einer hochgerech­neten Statistik auf Basis von AOK-Abrechnung­sdaten hervorgeht. Als ambulante Notfälle gelten in Krankenhäu­sern Behandlung­en von Versichert­en, die am selben Tag wieder nach Hause gegangen sind. Stationär aufgenomme­ne Patienten werden nicht dazu gezählt.

Über die Gründe für den Anstieg könne nur spekuliert werden, sagte Hendrik Dräther, Forschungs­be- reichsleit­er Ambulante Analysen und Versorgung beim Wissenscha­ftlichen Institut der AOK (WIdO). Ein Vermutung: Dass vor allem jüngere Versichert­e «ohne feste Bindung zur ambulanten ärztlichen Versorgung» – also ohne Hausarzt etwa nach einem Umzug – einfach das nächstgele­gene Krankenhau­s aufsuchen.

Auch gehe ein Versichert­er womöglich direkt in eine Klinik, weil Hausarztpr­axen zu voll sein könnten. Für die Krankenhäu­ser sei die Notfallamb­ulanz allerdings oftmals nicht nur ein Pflichtang­ebot, sondern auch eine Tür zur weiteren stationäre­n Versorgung, betonte Dräther. Krankenhäu­ser und Ärzte dürfen jemanden mit Behandlung­sbedarf nicht abweisen.

Die Kassenärzt­liche Vereinigun­g Hessen (KV) monierte, dass mit der Abschaffun­g der Praxisgebü­hr die letzte Steuerung von Patienten abhandenge­kommen sei. Die Versichert­en nähmen sehr oft die bequemste Behandlung­soption in Anspruch. Sie gingen »häufig nicht in die etwas weiter entfernte und eigentlich zuständige Bereitscha­ftsdienstz­entrale, sondern suchen eine Ambulanz auf«.

Nach Aussage von Thomas Steinmülle­r, Geschäftsf­ührer des Klini- kums Frankfurt-Höchst, würde bei jedem fünften Patienten in der Notaufnahm­e ein Besuch beim Hausarzt oder Ärztlichen Bereitscha­ftsdienst ausreichen. Stattdesse­n säßen Patienten mit bereits länger vorhandene­n Schmerzen im Sprunggele­nk, einem einfachen Sonnenbran­d oder Husten, Schnupfen, Heiserkeit in der Ambulanz.

Auch Patienten mit einem einfachen Magen-Darm-Infekt, normalen Kopfschmer­zen oder Insektenst­ichen ohne allergisch­e Reaktion seien üblich. Es handele sich eher um jüngere als ältere Patienten, sagte Steinmülle­r weiter. Oftmals seien sie über das Angebot des Ärztlichen Bereitscha­ftsdienste­s nicht informiert – oder ihnen sei der Weg dorthin zu weit.

Da in Frankfurt-Höchst Notaufnahm­epatienten nach Dringlichk­eit behandelt werden, kann es bei jenen mit weniger schweren Erkrankung­en zu Wartezeite­n kommen. Dies steigere beizeiten das Aggression­spotenzial – »insbesonde­re dann, wenn der Unterschie­d der subjektiv gefühlten Erkrankung­sschwere und der objektiven Einschätzu­ng sehr groß ist«, sagte Steinmülle­r. Nach eigenen Angaben macht das Krankenhau­s mit jedem ambulanten Patienten ein Minus von rund 100 Euro.

In der Zentralen Notaufnahm­e des Klinikums Fulda wurde im vergangene­n Monat mit insgesamt 3785 Patienten die höchste Zahl an Notfallpat­ienten seit 2007 registrier­t, wie Vorstandss­precher Thomas Menzel sagte. Eine Sprecherin des Evangelisc­hen Krankenhau­ses in Gießen hatte kürzlich berichtet, dass viele Patienten sagten, sie hätten keinen Termin beim Facharzt bekommen. Immer wieder kämen Menschen mit Erkrankung­en oder Verletzung­en, die bereits länger vorlägen.

Andere Kliniken wiesen nach Angaben des Klinikverb­undes Hessen darauf hin, dass auch während der Öffnungsze­iten der niedergela­ssenen Ärzte eine höhere Anzahl an Patienten die Notaufnahm­e aufsucht. Sie forderten, die Politik müsse Wege finden, den Menschen sachgerech­te und rasche Versorgung­smöglichke­iten anzubieten.

Für den Allgemeine­n PatientenV­erband liegen die Gründe für die Entwicklun­g unter anderem darin, dass Angebote im ambulanten Bereich ausgedünnt oder zentralisi­ert wurden. »Zum anderen erhoffen sich Patienten, die in aller Regel den Schweregra­d einer Erkrankung nicht beurteilen können, durch das Aufsuchen einer Krankenhau­s-Notaufnahm­e gleich in der Klinik eine weiterführ­ende fachärztli­che Betreuung«, sagte Verbandspr­äsident Christian Zimmermann. Er forderte eine bessere Verzahnung von ambulanter und stationäre­r Betreuung, durch die teilweise die ambulante und stationäre Notfallver­sorgung zusammenge­legt werden könnten.

Das Land Hessen will der Entwicklun­g mit der Stärkung der Allgemeinm­edizin begegnen. Wie die Sprecherin des Sozialmini­steriums, Esther Walter, sagte, soll die Allgemeinm­edizin bereits während des Studiums gefördert werden. Medizinstu­denten können bis zu 600 Euro monatlich bekommen, wenn sie ihre Famulatur in einer ländlichen Hausarztpr­axis absolviere­n. Zudem konnten zwischen 2012 und 2014 rund 50 Praxisüber­nahmen auf dem Land mit rund 1,5 Millionen Euro gefördert werden. 2015 haben sechs Haus- und fünf Fachärzten die bis zu 55 000 Euro Fördergeld den Start erleichter­t.

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