»Es wird rauer im Land«
Seit 2004 gab Thomas Bachmann, Mitbegründer des Leipziger Literaturkreises, vier Mal »Schlafende Hunde« heraus, verdienstvolle Sammlungen zeitgenössischer politischer Lyrik. Nun greift er den Faden seines »Liederbuchs« von 2012 auf. Der Dimension des Geschehens und den Jahreszeiten folgend, spürt er einem Einschnitt im Leben der Gesellschaft nach.
Zum Auftakt wecken Beziehungsgedichte die Neugier, oft dem Epigramm nah, stets mit besonderem Blick: »von jeder liebe / und als müsste das so sein / hat noch jede dieses so gehalten / als wär die narbe nicht genug / sind’s von der einen fotos / von der andren schuh für mich / und von dieser hier / wird’s auch was sein, ich kann / mich nicht erinnern beim gehen / ein solches pfand in einem flur / vergessen zu haben.« Stark berühren dem Vater gewidmete Verse: »ich hielt deine Hand / als du gingst ohne Wiederkehr / sah ich den Tod kommen / deine Augen so groß / wie die eines Kinds / auch deinen Zorn / werd ich nicht vergessen …«
Dem Text- und Tonschöpfer Bachmann liegt das Elegische. Strophen »für Volker Braun« schließen schwermütig: »Wie letzte Pfützen sind wir so / vergessen und uns selbst vergessend / winz’ge Meere irgendwo / in alten Zimmern, altem Licht.«
Verschüttetes kommt zum Vorschein: »die mütter auf den feldern / im frost und / hinterm horizont der feind / als dumpfe dunkle wolke / die söhne irgendwo, die väter / niemand grub kartoffeln ...« »Vergessen«, fragt die Überschrift ohne Fragezeichen.
Nur scheinbar lenkt ein »Bänkelsang« ab: Karl wäscht seinen Benz, Meier kommt mit Nero, man grüßt sich, Nero hebt Bein, Benz wird nass. »Meier grinst, und Karl der schweigt / kreuzt die Arme vor der Brust / ach der Bürger zu schnell neigt / von der Fröhlichkeit zum Frust / So denn eins das andre gibt / und vom Wort geht es zur Tat /… wer nun leise lacht der scheut / die Moral von der Geschicht.«
Stoß auf Stoß, mal zärtlich, mal derb, entsteht das Profil des Jahres. Heitere Frühlingsstrophen enden auf Heines Weise: »... und alte damen putzen fenster / verrückt, wie sie die sonne spiegeln / verrückt, sich vorzustellen / auf all das fiele brüllendes metall.« Ein erschossener Soldat schreibt seiner Mutter, und die keineswegs groteske Ballade ruft eindringlich Fontanes »Trauerspiel von Afghanistan« in Erinnerung. Schließlich: das Wort. »... es fühlt sich an wie krieg / großmutter, was sagst du für sachen / und in deinen augen die seltsame nacht / die wir so gerne vergaßen / heute am tisch legst du das wort / wie einen stein auf die teller ...«
Bei einem der stärksten Gedichte des Buchs ahnt man den Donbass im Hintergrund. Andere Verse, von poetischem Geheimnis umgeben, lassen an Grauen südlicher Gestade denken. Unmissverständlich hingegen »Leipzig 2015«, in wohlgeformter Fassung: »Es wird rauer im Land / man macht hier und dort / nicht mehr so viel Worte / in seltsamer Eintracht / Helme und Steine / und Pfeffer als Würze / und Tränengas, es ist / so könnte man sagen / Blut auf der Straße /... kurz sind die Wege geworden / und selbst Fotografen / wird‘s schon zu viel, der / Fall in diesen zu gut / bekannten, unruhig / machenden Zustand.«
Dieser Zustand ist ein Scharfgericht fürs Denken. Wenn Reiner Kamp, der Illustrator des Bandes, dutzendmal eine Henkersmaske erblicken lässt, zielt er keineswegs zuerst auf IS. Seine phantasievoll-makabren Zeichnungen rücken die Atmosphäre vor Augen, in der Bachmanns achtzig neue Texte entstanden.