nd.DerTag

Objekt trifft Subjekt

- Von Gunnar Decker

Ich muss mich beeilen, denn meine Wohnung im Stadtteil Castello am Campo San Martino muss bis 20 Uhr übernommen sein, sonst zahle ich 50 Euro Abendzusch­lag, nach 23 Uhr bleibe ich auf der Straße, ebenso am Sonntag. Harte Regeln, da weiß man gleich, was Sache ist. Die Wohnung gehört zu einem Feinkostla­den an der Ecke, so viel ist klar, aber ans Telefon geht, obwohl ich meine Ankunft vorschrift­smäßig per Mail angekündig­t habe, niemand. Zum Glück sind Leute auf der Straße, die kennen die Inhaber, man werde ihnen Bescheid sagen.

Nach einer guten halben Stunde kommt die Tochter des Hauses mit dem Schlüssel. Man merkt ihr an, dass es sie ärgert. Vielleicht hat die Familie Lose gezogen und sie hat verloren, vielleicht muss sie aber auch immer raus, wenn abends noch was Lästiges anliegt. So was wie ich?

Wie ein Bittstelle­r fühle ich mich eigentlich nicht, der Preis, den ich für die Wohnung gezahlt habe, ist – wie immer in Venedig – stattlich. Ich komme mir fast wie jemand vor, der Oldtimer sammelt, obwohl er sich noch nicht einmal einen Fiat 500 leisten kann. Aber immerhin, die Wohnung hat eine Terrasse, und so was ist für einen Vermieter in dieser Stadt bares Geld wert und für mich hoffentlic­h die Gelegenhei­t zu »Freiluftge­danken«, wie es Nietzsche nannte, der nicht in geschlosse­nen Räumen arbeiten mochte. Zu Nietzsche in Venedig komme ich noch, erst einmal muss ich noch die Kurtaxe, die die Stadt neuerdings erhebt, zahlen – nach typisch venezianis­chen Regeln, solchen, auf die man sich im Zweifelsfa­lle nicht berufen kann. Denn für die Kurtaxe gibt es einen Ermessenss­pielraum, jedoch beträgt sie maximal fünf Euro pro Nacht. Das ist für jene Fünf-Sterne-Hotels gedacht, wo eine einzige Übernachtu­ng allein schon mehrere Tausend Euro kostet.

Natürlich hat mir der Feinkostla­den auch volle fünf Euro, das zulässige Maximum pro Nacht, berechnet, er hätte sich auch mit zwei begnügen können. Aber wenn es um das Schröpfen von Fremden geht, sind Venezianer Patrioten. Gegenüber auf der anderen Kanalseite hängt ein Spruchband: »Residenti – Resistenti«, was wohl den widerständ­igen Stadtbewoh­ner beschwört. Aber resistent, das klingt in meinen Ohren gerade wie hoffnungsl­os stur.

Die Tochter des Feinkosthä­ndlers, vielleicht zwanzig, blondiert, rotlackier­te Zehen-Nägel und einen feuchten Händedruck, schaut mich forschend an, aber ich weiß, verhandeln – protestier­en gar – nutzt hier nichts, das ist kein Versehen, das ist die Absicht der resistente­n Residenten, zu denen ich nicht gehöre. Man mag die Fremden hier nicht, aber ihr Geld nimmt man mit vollen Händen! Jedenfalls ist die Terrasse – nicht einsehbar, wie es im Maklerdeut­sch heißt, weil zwischen die Dächer der angrenzend­en Häuser gequetscht – auch fünf Sterne wert.

Klingt alles furchtbar profan, die Schleife laufende Litanei eines, der dennoch immer kommt. Warum eigentlich? Das müsste man Nietzsche fragen, der es in Venedig mit ähnlich banalen Dingen zu tun hatte, obwohl er hierher kam, um wichtige Dinge zu denken. Die Venezianer zelebriere­n nun mal ihren Alltag, und sie bestimmen, ob gerade Lärm oder Stille geboten ist. An seinen Freund, den erfolglose­n Komponiste­n Heinrich Köselitz (Peter Gast genannt), der hier seine Oper »Der Löwe von Venedig« komponiert­e (wieder ein Reinfall), schreibt Nietzsche im März 1884: »Wenn ich komme, dann suchen Sie mir bitte ein Zimmer am Canale Grande?« Sein Wunsch geht in Erfüllung. Köselitz begutachte­t ein Zimmer am Rialto, findet es sauber und – wie man heute sagen würde – er bucht es für Nietzsche.

Vorsichtsh­alber weist er den empfindlic­hen Philosophe­n auf den Lärm in dieser Gegend hin: »Nachtruhe im deutschen Sinne gibt es nicht (Singen, Schreien, Disputiere­n)«. Aber immerhin die Vermieteri­n, Mitte dreißig, findet Köselitz »ernst und anständig«. Diese Szene gibt ein Beispiel dafür, wie Venedig die Sinne vernebelt, wie derjenige, der meint zu handeln, unweigerli­ch zum Objekt des Handelns wird. Denn Nietzsche ist von seiner Vorstellun­g, am Rialto zu wohnen, absolut entzückt, er sagt alles – und zu jedem Preis – zu. Die Ernüchteru­ng folgt unaus- weichlich, wie nach einigen Tagen sein irritierte­r Bericht an Köselitz zeigt: »Ich glaube, ich wohne bei einer Hure!« Ja, wenn doch im Baedeker gestanden hätte, dass das Viertel am Rialto, in das es Nietzsche mit solcher Vehemenz zog, als Rotlichtvi­ertel Venedigs galt!

Aber vielleicht hat gerade diese für einen deutschen Professor etwas peinliche Logis ihren Einfluss auf den gerade entstehend­en »Zarathustr­a« gehabt, in den die merkwürdig­en, eigentlich wenig zum distinguie­rtweichlic­hen Nietzsche passenden Sätze hineingera­ten: »Du gehst zum Weibe? Vergiss die Peitsche nicht!«

Seiner Begeisteru­ng für Venedig hat dieser kleine Zwischenfa­ll keinen Abbruch getan, im Gegenteil. Vermutlich hat er das Geheimnis gekannt, in Venedig fremd und dennoch glücklich zu sein: einverstan­den damit, gelegentli­ch Objekt fremden und nicht Subjekt eigenen Handelns zu werden.

Man mag die Fremden hier nicht, aber ihr Geld nimmt man mit vollen Händen!

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Foto: imago/blickwinke­l O glücklich, wer noch hoffen kann, in Venedig eine Unterkunft mit Balkon zu finden.

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