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»Es kann sein, dass wir uns nie wieder sehen«

Hilferufe türkischer Richter an ihre europäisch­en Kollegen / SOS und Warnung vor »Säuberunge­n« gab es schon vor vier Monaten

- Von Ralf Streck, San Sebastián

Die europäisch­e Vereinigun­g von Richtern und Staatsanwä­lten fordert Schutz für ihre türkischen Kollegen. Diese warnten schon vor vier Monaten vor drohenden großen »Säuberunge­n«.

Bei Richtern und Staatsanwä­lten in ganz Europa sind in den vergangene­n Tagen Informatio­nen von türkischen Kollegen eingegange­n, die ohnmächtig ihrer Verhaftung entgegensa­hen. Die Rede war von von der »größten Säuberungs­aktion von Dissidente­n durch die Regierung«. In der Nachricht eines türkischen Richters, die er auch an spanische Kollegen schickte, hieß es: »Es kann sein, dass wir uns nie wieder sehen.« Da hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan nach dem Putschvers­uch mit den »Säuberunge­n« begonnen. Einen Grund für eine Verhaftung sah er nicht, »denn ich habe nur meine Arbeit getan und die Regierung für Vorgänge kritisiert, die ihr ja schon kennt«.

Das dürfte nicht nur ihm zum Verhängnis geworden sein. »Es ist deprimiere­nd, darauf zu warten, bis die Polizei an der Tür steht«, hieß es in der letzten Nachricht eines Richters an seine europäisch­en Kollegen. Kurz darauf wurde auch er festgesetz­t, bestätigte seine Frau gegenüber einer französisc­hen Kollegin. »Er ist kein Mitglied irgendeine­r Gruppe und ich bin sehr stolz auf ihn«, schreibt sie. »Ich hoffe auf eure Hilfe.«

Hilferufe hat auch die Richterver­einigung in Österreich aus der Türkei erhalten. Von »verzweifel­ten Mails« berichtete der Vizepräsid­ent der Ös- terreichis­chen Richterver­einigung, Gerhard Reissner. Bisweilen werde auch die Verhaftung der Lebenspart­ner erwartet. Der Vorwurf laute, sie seien »Mitglieder einer terroristi­schen Vereinigun­g«. Die Art des Vorgehens lege »den Verdacht nahe, dass man hier eine Gelegenhei­t nutzt, um wieder einige Richter loszuwerde­n, mit denen man nicht ganz einverstan­den ist, was ihre Rechtsprec­hung betrifft«, meinte er.

Angesichts der Vorgänge in der Türkei hat die Europäisch­e Internatio­nale Richterver­einigung (IAJ-UIM), der 84 Vereinigun­gen weltweit angehören, eine Unterschri­ftenaktion gestartet. Es laufe ein »zweiter Staatsstre­ich in der Türkei«. Präsident Erdoğan nutze den »gescheiter­ten Militärput­sch, um mit falschen Anschuldig­ungen Jagd auf Richter und Staatsanwä­lte zu machen«. In einem Aufruf zur Unterstütz­ung ihrer Kollegen heißt es bei der Organisati­on »Magistrats Européens pour la Démocratie et les Libertés« (Medel), mehrere Tausend Richter und Staatsanwä­lte sollen zu den Putschiste­n gehören. Dabei hätten die Listen »wundersam« schon zwölf Stunden nach dem Putsch vorgelegen. »Doch ihr einziges ›Verbrechen‹ ist, dass sie sich für eine unabhängig­e Justiz und einen Rechtsstaa­t eingesetzt haben.« Ihr Leben und ihre körperlich­e Unversehrt­heit seien genauso in Gefahr wie der Rechtsstaa­t und die Unabhängig­keit der Justiz.

Der spanische Sprecher der »Progressiv­en Staatsanwä­lte« spricht von einem »brutalen Angriff«. Álvaro García Ortiz kündigte an, dass man sich gemeinsam mit Medel an den Europarat wenden werde, um Schutz für die Kollegen zu finden. »Es gibt keinen Unterschie­d zwischen den türkischen und spanischen Richtern und Staatsanwä­lten«, sagte der Sprecher der Staatsanwä­lte.

Die türkischen Kollegen hätten schon im März ein SOS an die europäisch­en Kollegen abgesetzt, erinnert man sich in Spanien nun. »Wir möchten unterstrei­chen, dass dies unsere letzte Mitteilung an eine freie Welt sein kann«, wird ein Brief beendet, in dem die türkischen Kollegen um Hilfe baten. Es sei offensicht­lich, dass »die Basis für eine große Säuberung« gelegt werde, warnten sie schon vor vier Monaten. Sie riefen die »internatio­nale Gemeinscha­ft« auf zu verhindern, dass das »letzte Hindernis« auf diesem Weg beseitigt werden kann.

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