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»Wir sind heute vielleicht weniger naiv«

Fünf Jahre nach dem Breivik-Massaker hat sich in Norwegen mental und politisch kaum etwas verändert

- Von Bengt Arvidsson, Stockholm

An diesem Freitag begeht Norwegen den fünften Jahrestag des Massakers von Oslo und Utøya, bei dem der Rassist Anders Breivik 77 Menschen ermordet hat.

Jorid Nordmellan war am 22. Juli 2011 gerade 20 Jahre alt. An diesem Tag hatte sie sich auf der Insel Utøya unter einem Schlafsaal­bett vor Anders Breivik versteckt. Sie hat das Massaker, bei dem Breivik so viele Menschen getötet hat, überlebt. Am Freitag ist es fünf Jahre her.

Breivik hatte versucht, Tränengas durch die Glasfenste­r zu schießen, um Nordmellan und ihre Freunde nach draußen in seine Schusslini­e zu treiben. So hatte er es erfolgreic­h mit anderen gemacht. »Wir hatten die Fenster mit Matratzen verbarrika­diert. Sonst hätte ich nicht überlebt«, erinnert sie sich. Eine Stunde später ging Nordmellan aus dem Schlafsaal durch ein Meer aus Leichen und Verletzten, um die sich Sanitäter kümmerten. »Da sah ich ihn. Mit zwei Polizisten. Er lächelte, hüpfte, wippte auf den Füßen, als ob er high wäre. In dem Moment bekamen wir Augenkonta­kt. Und Breivik lächelte mich einfach nur an. Ich stand zwischen Leichen und der Mann wirkte so zufrieden, so glücklich, dass ich dachte, das kann nicht der Killer sein, der ist noch woanders«, erinnert sie sich. 69 Menschen, zumeist noch halbe Kinder, von den insgesamt 500 anwesenden Besuchern des jährlichen Sommerlage­rs der Jugendorga­nisation der Arbeiterpa­rtei hatte Breivik auf der Insel ermordet, oft mit Kopfschüss­en. Davor hatte der damals 32-Jährige mit einer Bombe acht Menschen im Osloer Regierungs­viertel getötet. Er wurde 2012 zur Höchststra­fe von 21 Jahren Gefängnis verurteilt.

Zum fünften Jahrestag ist Nordmellan seit Kurzem Mutter und hat als stellvertr­etende Parlaments­abgeordnet­e Karriere in der Arbeiterpa­rtei gemacht. Sie hatte Glück. Viele andere Überlebend­e sind noch immer krank, kommen vom Blick in den Abgrund nicht los. »Ich werde mit meinem Sohn Haagen nach Utøya zurückkehr­en. Ich denke, dass so viele von uns nie die Chance hatten, Babys zu bekommen. Das ist so unfair«, sagt sie. Psychisch gehe es ihr besser. »Aber wenn ich Schüsse aus dem Fernseher höre, kann ich immer noch verkrampfe­n«, sagt sie. Ob sich Norwegen verändert habe? »Nein, Norwegen hat sich kaum verändert. Wir sind vielleicht weniger naiv, wissen nun, dass Dinge, die andernorts passieren, auch bei uns passieren können. Wir haben auch kaum über Breiviks politische Motive geredet«, sagt sie.

Damals, vor fünf Jahren, war Norwegen überforder­t. Es gab keine Hubschraub­er. Schwer bewaffnete, aber ängstliche Polizisten trauten sich erst viel zu spät, vom Festland auf die nahe der Hauptstadt liegende Insel überzusetz­en. Breivik hatte 90 Minuten Zeit zum Morden. Er rief schließlic­h selbst bei der Polizei an, um seine Festnahme zu erbitten.

Inzwischen soll die Polizei besser auf Terrorakte vorbereite­t sein. »Bei einem solchen Angriff heute gäbe es nicht den gleichen Ausfall«, versprach Polizeidir­ektor Odd Humlegård kürzlich. 1049 zusätzlich­e Bereitscha­ftsmaßnahm­en seien seit dem 22. Juli 2011 eingeführt wurden.

Aber auch politisch war das Land überforder­t. Ausgerechn­et in Norwegen, wo solche Übergriffe unvorstell­bar erschienen, vollführte der frustriert­e Einzeltäte­r Breivik die Angriffe, die mehr Todesopfer forderten als die Anschläge in London 2005. Breivik ist eigentlich kein klassische­r Rechtsextr­emer, sondern eher ein Muslimhass­er, der in Schwulenba­rs gesehen worden sein soll. »Unsere Antwort wird mehr Demokratie sein, mehr Offenheit und mehr Menschlich­keit. Aber nie Naivität«, sagte Ministerpr­äsident Jens Stoltenber­g da- mals. Doch trotz starker Worte hat sich politisch und gesellscha­ftlich kaum etwas im Land verändert, meinen Kritiker. Die rechtspopu­listische Fortschrit­tspartei (FRP), deren Politiker genau wie Breivik die Einwanderu­ng von Menschen aus islamische­n Ländern als »Dolch in den Rücken der norwegisch­en Kultur« beschriebe­n hatten, ist seit 2013 erstmals in der Regierung. Auch der Umstand, dass Breivik vor den Anschlägen aktives FRP-Parteimitg­lied war, wird nicht diskutiert.

»Selbst für Sozialdemo­kraten war und ist es ein Tabu zu kritisiere­n, dass Breivik die FRP-Leute offenbar als Gesinnungs­genossen empfunden hatte und dass deren Brandreden Fremdenfei­ndlichkeit schüren«, sagte Shoaib Sultan vom Antirassis­tischen Zentrum in Oslo dieser Zeitung. Seit 2001 sei die rassistisc­he Debatte auf dem Rücken der muslimisch­en Minderheit im Land schrittwei­se eskaliert, so Sultan. Nach 2011 wurde sie auch von der FRP deutlich zurückgefa­hren. »Aber jetzt, fünf Jahre danach, ist der offene Rassismus fast schlimmer als vor 2011. Man traut sich mehr zu sagen als vor Breivik. Breivik hat die Grenze für rassistisc­he Aussagen paradoxerw­eise erweitert. Überspitzt ist heute der Tenor: Solange man nicht losgeht, um Kinder zu ermorden, ist man nicht extrem«, so Sultan.

Kritisiert wird auch, dass Norwegen zu sehr auf Breivik als Person und potenziell Verrückten und dessen Gewohnheit­en und Kindheit geblickt hat. »Man suchte nach psychologi­schen Gründen. Breivik wird zum Phänomen, seine Hassideolo­gie wird kaum thematisie­rt und damit kaum entschärft«, sagt Sultan. In den Schulen etwa sei wenig getan worden. »Erst seit Kurzem gibt es Ansätze, wie in den Schulen vorbeugend­e Arbeit gegen Extremismu­s geleistet werden kann.« Die bürgerlich-rechtspopu­listische Regierung fokussiere sich da vor allem auf Radikalisl­amismus, der auch in Norwegen zunehmend zum Problem werde. Sie habe ihre Initiative aber so allgemein formuliert, dass sie Rechtsextr­emismus beinhaltet.

Auch in Norwegen gerät Breivik angesichts der radikalisl­amistische­n Attentate in anderen Ländern zunehmend in Vergessenh­eit. »In Norwegen reden wir nur noch vom islamistis­chen Terror. Es heißt, der Terror kommt immer näher zu uns. Diese Vorstellun­g ist etwas absonderli­ch, wenn man bedenkt, dass man in Norwegen bereits einen so dramatisch­en Terrorangr­iff von innen heraus hatte«, sagt Hernik Syse vom Friedensfo­rschungsin­stitut PRIO.

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Foto: dpa/Julia Wäschenbac­h Utøya: Idylle, der das Grauen stets immanent bleibt

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