Karl Marx hatte einen schier unfassbaren Aneignungsdrang historischer und zeitgenössischer Literatur. Exzerpte – Schatz aktiven Lesens
Wie Marx und Engels Liebe zum Wissen in wirkliches Wissen verwandelt haben
Wie Beiträge für ein geisteswissenschaftliches Jahrbuch entstehen, stelle ich mir so vor, wie aus Most guter Wein wird. Nach dem Keltern hat er noch nicht die wünschenswerte Substanz; er muss erst reifen. Liegt er zu lange, schmecken die weniger entwickelten Sorten fade. Das kann den Herausgebern der »Beiträge zur Marx-Engels-Forschung« nicht passieren. Und es ist gut so, dass die Philologen den Begriff »Exzerpte« oder »Exzerpthefte«, denen die IV. Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) vorbehalten ist, aufdrieseln und neu bündeln unter dem, was sie eigentlich darstellen: Studienmaterialien. Denn sie enthalten nicht nur Abschriften aus mehreren hundert Werken nahezu aller Wissensgebiete, sondern auch kommentierende Bemerkungen.
Richard Sperl, der Altmeister historisch-kritischer Quellenforschung, widmet sich in einem opulenten Essay »Friedrich Engels als Wissenschaftler« und untersucht dessen Studienmethodik. Voran stellt er eine Kurzbiografie, höchst lesenswert. Wenn einer, der jahrzehntelang dem Leben und Schaffen eines Anderen nachspürt, sich zu einem gerafften Überblick entschließt, sind Sätze und Aussagen kristalldicht und klar formuliert. Nach eingehender Charakterisierung der Marginalien, Exzerpte und Notizen gelangt Sperl zu dem Schluss, dass der im Vergleich zu Marx geringere Umfang kein Indiz für eine weniger intensive Arbeit von Engels sei. Er hatte eine andere Studienmethode (die Sperl im Detail schildert), weswegen deren Besonderheiten in der MEGA differenzierter beschrieben werden sollten.
Als Pendant bietet Rolf Hecker einen konzentrierten Einblick in die Studienmaterialien von Marx. Über den schier unfassbaren Aneignungsdrang historischer und zeitgenössischer Literatur des »Ochsenkopfes von Ideen« (Karl Friedrich Köppen) ist schon viel geschrieben worden. Hecker unterscheidet vier Etappen in Marxens Studienprozess, der sich nie verselbstständigte. Es ist eine zielgerichtete Orientierung zu erkennen: von der Geologie über Chemie, die Entwicklung der Arbeitsproduktivität bis hin zur Geschichte der menschlichen Gesellschaft. Hecker zeichnet das Paradigma von der »Wissenschaft in ihrer Totalität, ihrer Einheit und in ihren Zusammenhängen« nach, wie es sich in den Materialien von Marx dokumentiert.
Heckers Artikel fußt auf einem Vortrag, den er in Beijing gehalten hat, im Übersetzungsbüro, das die chinesische Ausgabe der Mammutediton begleitet. Zhao Yulan informiert über den Stand der Dinge. Ein Aufsatz über landwirtschaftliche Exzerpte wiederum erschien zuerst in japanischer Sprache. Der Franzose Ducange schreibt über die Beziehungen des alten Engels zur französischen sozialistischen Bewegung. Eine Gruppe brasilianischer Professoren kommentiert Marx‘ Aufzeichnungen zur Wirtschaftskrise von 1866. Die Erschließung des OEvres von Marx und Engels ist längst zu einem internationalen Anliegen geworden, was sich auch in diesen »Beiträgen« widerspiegelt.
Der Text der Brasilianer ist eine gute Ergänzung zu Fritz Fiehlers Analyse erster Ansätze der Konjunkturforschung und Krisentheorie bei Marx, die auf Artikel in der »Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue« zurückgehen. Von der »Neuen Rheinischen Zeitung« weiß jeder Marxist – aber auch dass es 1850 noch eine »Revue« gleichen Namens gab? Nach der Niederlage der Märzrevolution kündigte sich eine konservative Ära an, die mancherlei Assoziationen zur Gegenwart aufkommen lässt, bis hin zum Gezänk unter den Linken. In solcher Phase gelte es, sich Klarheit zu verschaffen. Fiehler untersucht, wie Marx den Ursachen von Krisen nahekommt und wie er zu der Einsicht gelangt, dass Krise und Revolution nicht zwingend verknüpft sind. Unbedingt zu erwähnen sind noch Michael Krätkes Abhandlung »Marx und die Weltgeschichte« sowie Carl-Erich Vollgrafs Aufsatz über Marxens Studien zum privatwirtschaftlichen Raubbau am natürlichen Stoffwechsel. Damit ist der Geist noch nicht aus der Flasche. Das Reservoire ist unerschöpflich.