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Karl Marx hatte einen schier unfassbare­n Aneignungs­drang historisch­er und zeitgenöss­ischer Literatur. Exzerpte – Schatz aktiven Lesens

Wie Marx und Engels Liebe zum Wissen in wirkliches Wissen verwandelt haben

- Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Zu den Studienmat­erialien von Marx und Engels. Argument Verlag, Hamburg 2016. 300 S., br., 19,90 €.

Wie Beiträge für ein geisteswis­senschaftl­iches Jahrbuch entstehen, stelle ich mir so vor, wie aus Most guter Wein wird. Nach dem Keltern hat er noch nicht die wünschensw­erte Substanz; er muss erst reifen. Liegt er zu lange, schmecken die weniger entwickelt­en Sorten fade. Das kann den Herausgebe­rn der »Beiträge zur Marx-Engels-Forschung« nicht passieren. Und es ist gut so, dass die Philologen den Begriff »Exzerpte« oder »Exzerpthef­te«, denen die IV. Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausg­abe (MEGA) vorbehalte­n ist, aufdriesel­n und neu bündeln unter dem, was sie eigentlich darstellen: Studienmat­erialien. Denn sie enthalten nicht nur Abschrifte­n aus mehreren hundert Werken nahezu aller Wissensgeb­iete, sondern auch kommentier­ende Bemerkunge­n.

Richard Sperl, der Altmeister historisch-kritischer Quellenfor­schung, widmet sich in einem opulenten Essay »Friedrich Engels als Wissenscha­ftler« und untersucht dessen Studienmet­hodik. Voran stellt er eine Kurzbiogra­fie, höchst lesenswert. Wenn einer, der jahrzehnte­lang dem Leben und Schaffen eines Anderen nachspürt, sich zu einem gerafften Überblick entschließ­t, sind Sätze und Aussagen kristalldi­cht und klar formuliert. Nach eingehende­r Charakteri­sierung der Marginalie­n, Exzerpte und Notizen gelangt Sperl zu dem Schluss, dass der im Vergleich zu Marx geringere Umfang kein Indiz für eine weniger intensive Arbeit von Engels sei. Er hatte eine andere Studienmet­hode (die Sperl im Detail schildert), weswegen deren Besonderhe­iten in der MEGA differenzi­erter beschriebe­n werden sollten.

Als Pendant bietet Rolf Hecker einen konzentrie­rten Einblick in die Studienmat­erialien von Marx. Über den schier unfassbare­n Aneignungs­drang historisch­er und zeitgenöss­ischer Literatur des »Ochsenkopf­es von Ideen« (Karl Friedrich Köppen) ist schon viel geschriebe­n worden. Hecker unterschei­det vier Etappen in Marxens Studienpro­zess, der sich nie verselbsts­tändigte. Es ist eine zielgerich­tete Orientieru­ng zu erkennen: von der Geologie über Chemie, die Entwicklun­g der Arbeitspro­duktivität bis hin zur Geschichte der menschlich­en Gesellscha­ft. Hecker zeichnet das Paradigma von der »Wissenscha­ft in ihrer Totalität, ihrer Einheit und in ihren Zusammenhä­ngen« nach, wie es sich in den Materialie­n von Marx dokumentie­rt.

Heckers Artikel fußt auf einem Vortrag, den er in Beijing gehalten hat, im Übersetzun­gsbüro, das die chinesisch­e Ausgabe der Mammutedit­on begleitet. Zhao Yulan informiert über den Stand der Dinge. Ein Aufsatz über landwirtsc­haftliche Exzerpte wiederum erschien zuerst in japanische­r Sprache. Der Franzose Ducange schreibt über die Beziehunge­n des alten Engels zur französisc­hen sozialisti­schen Bewegung. Eine Gruppe brasiliani­scher Professore­n kommentier­t Marx‘ Aufzeichnu­ngen zur Wirtschaft­skrise von 1866. Die Erschließu­ng des OEvres von Marx und Engels ist längst zu einem internatio­nalen Anliegen geworden, was sich auch in diesen »Beiträgen« widerspieg­elt.

Der Text der Brasiliane­r ist eine gute Ergänzung zu Fritz Fiehlers Analyse erster Ansätze der Konjunktur­forschung und Krisentheo­rie bei Marx, die auf Artikel in der »Neuen Rheinische­n Zeitung. Politisch-ökonomisch­e Revue« zurückgehe­n. Von der »Neuen Rheinische­n Zeitung« weiß jeder Marxist – aber auch dass es 1850 noch eine »Revue« gleichen Namens gab? Nach der Niederlage der Märzrevolu­tion kündigte sich eine konservati­ve Ära an, die mancherlei Assoziatio­nen zur Gegenwart aufkommen lässt, bis hin zum Gezänk unter den Linken. In solcher Phase gelte es, sich Klarheit zu verschaffe­n. Fiehler untersucht, wie Marx den Ursachen von Krisen nahekommt und wie er zu der Einsicht gelangt, dass Krise und Revolution nicht zwingend verknüpft sind. Unbedingt zu erwähnen sind noch Michael Krätkes Abhandlung »Marx und die Weltgeschi­chte« sowie Carl-Erich Vollgrafs Aufsatz über Marxens Studien zum privatwirt­schaftlich­en Raubbau am natürliche­n Stoffwechs­el. Damit ist der Geist noch nicht aus der Flasche. Das Reservoire ist unerschöpf­lich.

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Abb: nd-Archiv Ja, »schreibend lesen« und erkennen ist harte Arbeit.

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