Gesellschaft im hermetischen Raum
Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« weiß auch nach fast hundert Jahren noch zu begeistern
Es ist, nach heutigen Maßstäben, ein unmöglicher Roman. Er hat keine dramatische Handlung. Er hat keinen Plot. Der »Held« ändert sich kaum, ist eigentlich ein Anti-Held. Es gibt Längen, und überhaupt habe der »Zauberberg« eine »erzromantische Konzeption«, schrieb Thomas Mann. Ein »Monstrum, sui generis« (ohne Beispiel), »eine Geschichte mit pädagogisch-politischen Grundabsichten«. Herrje, wer möchte denn noch so was lesen? Wahrscheinlich würde bei unserer zweckbestimmten Zeitraffsucht kein Verlag diese »Meisteriade« drucken.
Dennoch ist »Der Zauberberg« nach dem »Faust« wohl das am meisten zitierte Werk deutscher Sprache. Die Konstruktion folgt einem durchaus gängigen Modell: Eine Gesellschaft – die Gesellschaft? – in einem hermetischen Raum, wie Gefangene auf sich und ihresgleichen verwiesen. Hans Castorp, ein »simpler« Hamburger Patriziersohn und Ingenieur, der nicht recht weiß, was er mit seinem Leben anfangen soll, fährt nach Davos, ins Lungensanatorium »Berghof«, um seinen Vetter Joachim Ziemßen zu besuchen. Der Aufenthalt zieht sich über sieben Jahre hin. Wie alle Patienten mit Krankheit und Tod konfrontiert (ein Hauptmotiv Thomas Manns), lässt er sich treiben, reflektiert, was er sieht und hört.
In diesem langen Zeitraum begegnet ihm eine Reihe »moribunder« Personen: Der eifernde Settembrini, ein Freidenker und Humanist mit enzyklopädischem Wissen, eine »Art Don Quichote des Liberalismus« nannte ihn der Germanist Fritz Hof- mann. Sein Gegenspieler ist der Jesuit Naphta, spartanisch, radikal, »eine boshafte Eleganz des Denkens«, die Marx gelesen hat und die katholische Kirche als eine revolutionäre Macht versteht, die den gerechten Staat – und sei es blutig – erkämpft. Beide ringen um Einfluss auf Castorp. Dem sind aber des einen wie des anderen Tiraden so extrem und widersprüchlich, dass er sich keinem unterwirft, denn »mit ihren Tendenzen (haben sie) so recht wie unrecht«, schreibt Thomas Mann ins Tagebuch.
Castorp ist ein Suchender und Fragender. Die Gespräche mit seinen »Pädagogen« und deren Streit untereinander reißen einen mit durch ihre fast schon magische Brisanz und Schärfe. (In der Figur des Naphta hat man Georg Lukács gesehen, in Settembrini den italienischen Publizisten und Freiheitskämpfer Luigi Settembrini.) Aber sie eskalieren erst im letzten Drittel des Romans und enden mit einem sinnlosen Duell. Bis dahin lernen wir noch den Okkultisten Krokowski kennen, den Sanatoriumsdirektor Behrens, der die na- turwissenschaftliche Seite vertritt, auch die Russin Clawdia Chauchat, in die sich Castorp, schwärmerisch verzaubert und gehemmt, verliebt. Erstaunlich, wie Thomas Mann dieses Spannungsverhältnis über 900 Seiten durchhält, ohne dass sich die Liebe erfüllt. Auch sie hat etwas Krankhaftes, Parodistisches. Wie Mann seinen »Bildungsroman« insgesamt als eine Parodie auf das traditionelle, bürgerliche Literaturgenre anlegt.
Dazwischen Szenen trivialer Tischgespräche, Alltag der Liegekuren, die Mystik damaliger Röntgenaufnahmen, lange Traumbilder im visionären Kapitel »Schnee« und – dies sei nicht unterschlagen – zum Teil ausgedehnte Reflexionen.
Was fasziniert trotz alldem am »Zauberberg«, dass wir nach fast hundert Jahren noch davon zehren können? Es ist zuerst die brillante Sprache. In keiner Weise gekünstelt, aber so präzise in der Wortwahl, die Beschreibungskunst so empfindsam und bedacht, dass die kleinste Episode interessant wird. Thomas Mann hatte stets Sorge, ob ihm die Balance zwischen Exaktheit und Erzäh- lung gelinge. »Jede Einzelheit ist darauf zu prüfen, ob sie die Grenze des Ästhetischen streift oder überschreitet.«
Dieses Ringen um Stoff und Gestaltung merkt man dem Roman an. Mann notiert selber Stärken und Schwächen seiner »Meisteriade«. Aber lernen wir von Kunstwerken, denen man beim zweiten Lesen Arbeit und Mühe, Verdruss und Leidenschaft des Autors anmerkt, nicht mehr als von einem perfekten Ergebnis? Er hat sich reichlich gequält. Er ist drangeblieben. Das macht mir den »Zauberberg« so sympathisch. Ich habe ihn dreimal gelesen.
Bei allen Brüchen: Ein Weltanschauungsroman, keine Frage, er spielt in der Endphase der Wilhelminischen Ära und endet mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Ein Themengewebe genereller Ambivalenz tut sich auf zwischen Humanität und Romantik, Utopie und Reaktion, Aufklärung und (ausbleibender) Tat. Darüber hinaus aber liebe ich den »Zauberberg« besonders als ein Zeugnis gestalterischer Fähigkeiten und des Willens, sie zur Geltung zu bringen.